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Immer mehr junge Männer entscheiden sich für den Zivildienst. Umgekehrt können viele Organisationen nicht mehr auf sie verzichten - so auch Flüchtlingsheime.

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Immer mehr junge Männer entscheiden sich für den Zivildienst. Umgekehrt können viele Organisationen nicht mehr auf sie verzichten - so auch Flüchtlingsheime.

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Die Sonne spiegelt sich in den Glasfenstern der Bürohäuser in der Erdbergstraße im 3. Wiener Gemeindebezirk. In den vergangenen Jahren schossen die Riesen aus Glas und Stahl wie Schwammerl aus dem Boden und veränderten das Gesicht eines Grätzels. Auf der anderen Straßenseite scheint die Zeit stehengeblieben zu sein: Gebäude aus dem vergangenen Jahrhundert mit Betonfassaden und alten Fenstern dominieren. Früher befand sich in einem der Gebäude die Bundeszoll- und Zollwachschule - heute ermöglicht es über 600 Flüchtlingen ein Quartier auf Zeit. Vor allem Familien und alleinstehende Männer leben hier - im Haus Erdberg der Caritas Wien und des Arbeiter Samariter Bundes. Sie kamen aus Afghanistan oder aus dem Irak nach Österreich, warten und hoffen auf ihren Asylbescheid.

Am Empfang werden die Ausweise kontrolliert. Schilder weisen den Weg durch die langen Gänge, Farben kennzeichnen die Stockwerke. Aus einer Küche duftet es nach frisch zubereitetem Curry. Über 23 Hauptamtliche arbeiten im Haus Erdberg der Caritas Wien; darüber hinaus sechs Zivildiener. Adis K. ist einer von ihnen, 21 Jahre alt. Er entschied sich schon bei der Musterung gegen das Bundesheer und für den Zivildienst. Adis bewarb sich bei der Leitung des Hauses. Er wurde zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen -und "genommen". Im vergangenen Juli ging es los.

Mehr Stellen in Flüchtlingsheimen

Die Caritas Wien setzte im Vorjahr etwa 335 Zivildiener ein, 27 davon im Bereich Asyl und Integration; für heuer sind 61 Zivildiener geplant. Österreichweit steigen die Stellen im Flüchtlingsbereich: In der Sparte "Betreuung von Vertriebenen, Asylwerbern, Flüchtlingen, Menschen in Schubhaft" gibt es derzeit österreichweit rund 700 Plätze; diese Zahl hat sich in den vergangenen Jahren verdoppelt, bestätigt Ferdinand Mayer, Leiter der Zivildienstserviceagentur.

Auch Alexander Tröbinger, Pressesprecher des Wiener Roten Kreuzes, stellt ein steigendes Interesse der Zivildienstpflichtigen am Flüchtlingsbereich fest. Im Pavillon 6 des Pflegewohnheims Baumgarten und im Haus Sandro des Wiener Roten Kreuzes werden 120 Flüchtlinge betreut. Vier Zivildiener arbeiten dort.

Zwölf Flüchtlingseinrichtungen betreibt der Arbeiter Samariter Bund in Wien. Im Jänner 2017 versahen hier 58 Zivis ihren Dienst. Die Suche nach dem passenden Zivildienstplatz ist für Zivildiener heute sehr einfach: Auf der Website der Zivildienstserviceagentur können Zivildienstpflichtige unter allen Einrichtungen drei Zuweisungswünsche abgeben. "85 Prozent aller verfügbaren Plätze können wir nach Wunsch vergeben", freut sich Ferdinand Mayer. Viele Zivildienstpflichtige bewerben sich auch bei der Einrichtung und der Organisation, wo sie ihren Zivildienst leisten wollen. "Wir wollen so viele Wunschkandidaten wie nur möglich", betont Martin Saboi. Er leitet den Bereich Zivildienst-Koordination der Caritas Wien.

Ja, auch er war einmal Zivildiener - bei der Johanniter Unfallhilfe. Sprachkenntnisse oder Erfahrungen seien etwa im Flüchtlings- und Migrationsbereich besonders wichtig, so Saboi. "Wir schauen auf das Interesse des Bewerbers und helfen ihm bei der Auswahl der Einrichtung." An Schnuppertagen können die künftigen Zivildiener die Einrichtungen und ihre Aufgaben kennenlernen.

Herausfordernde Aufgaben

Nein - als "Zivi" fühle sich Adis hier im Haus Erdberg nicht; viel mehr als vollwertiger Caritas-Mitarbeiter. Er war von Beginn an bei den Team-Besprechungen dabei. Sein Dienst beginnt entweder in der Früh oder am Nachmittag, je nach Dienstplan. Er begleitet die Klienten zu den Behörden. Auch versucht er, Streitereien zwischen den Bewohnern zu lösen -wenn etwa der eine Bewohner zu laut Musik hört, der andere aber schlafen gehen möchte. Dabei darf er sich auf keine Diskussionen einlassen, muss höflich bleiben, einen Betreuer holen, der deeskalierend eingreift. Adis kontrolliert auch die Sauberkeit in den Zimmern und in den Gemeinschaftsküchen, erinnert die Bewohnern daran, ihren Wohnbereich zu reinigen. "Ich bin ein Mädchen für alles", schmunzelt Adis und nippt kurz an einer Mineralwasserflasche.

Besonders viele Tätigkeiten dürfen die Zivildiener aber nicht übernehmen. "Das Gesetz schreibt für Zivildiener Hilfstätigkeiten vor", schränkt Martin Saboi von der Caritas Wien ein. Ausbildungen im Flüchtlingsbereich, welche die Zivildiener absolvieren, werden aber später von anderen Einrichtungen im Sozialbereich sehr wohl anerkannt. Viele bleiben auch nach ihrem Präsenzdienst der Einrichtung erhalten, gibt Saboi zu: sei es als Ehrenamtlicher oder Hauptamtlicher. Innenminister Wolfgang Sobotka sieht im Zivildienst sogar "den Eintritt in ein ehrenamtliches Engagement".

Welches war für ihn sein schlimmstes Erlebnis im Dienst? Adis erzählt von einem Klienten, der ihm sagte, dass einige Stunden zuvor sein Vater im Irak erschossen worden war. Das berührte Adis sehr; es entstand eine besondere Beziehung zu diesem Klienten. Das sei aber sehr selten, da die Klienten den jungen Zivis wenig Vertrauen entgegenbrächten.

Viele Klienten sehen in Adis aber einen hauptamtlichen Mitarbeiter der Caritas und nicht einen Zivildiener. Das liegt daran, dass es in ihren Heimatländern keinen Zivildienst wie in Österreich gibt. "Unsere Zivis gehören einfach zu unserem Team", betont Imgard Joo. Sie ist Leiterin des Hauses Erdberg der Caritas Wien, aber auch des Hauses Amadou im 15. Bezirk; pendelt zwischen beiden Häusern.

Umgang mit Traumatisierungen

Adis war einer der ersten Zivildiener im Haus Erdberg, derzeit sind es insgesamt sechs. "Ohne sie schaffen wir hier die Arbeit nicht", betont Joo. Sie schätzt die Begeisterung und das Engagement ihrer Zivis. Jeder komme mit seiner Persönlichkeit, mit unterschiedlichen Erfahrungen und Talenten ins Haus, so Joo. Die Zivildiener werden in den ersten eineinhalb Monaten eingeschult, absolvieren in der Caritaszentrale einen Erste-Hilfe-Kurs oder einen Pflegekurs. Veranstaltungen oder Fortbildungen etwa zum Thema Ayslrecht werden im Haus angeboten, so die Leiterin. In Seminaren lernen die Zivis den Umgang mit traumatisierten oder aggressiven Menschen. Gespräche mit Zivis gibt es regelmäßig, erzählt Frau Joo. "Die Verantwortung bleibt aber weiterhin auf den Schultern der Betreuer."

Das Interesse am Zivildienst im Haus Erdberg sei ungebrochen, freut sich Irmgard Joo. Laufend erhält sie Anfragen von jungen Menschen, die hier ihren Zivildienst leisten wollen. Ehemalige Zivis bleiben den Caritas-Häusern nicht nur ehrenamtlich erhalten, sie arbeiten oft neben dem Studium dort weiter, helfen bei Wochenendund Nachtdiensten aus. Sie kennen nicht nur das "Tagesgeschäft", sondern auch die Klienten. Das hätte sich in anderen Häusern gut bewährt, so Irmgard Joo.

Im April endet für Adis der Zivildienst bei der Caritas Wien. Seine Erwartungen wurden mehr als erfüllt. Er habe in den neun Monaten für sein Leben gelernt und Erfahrungen gesammelt. Für ihn war es keine "verlorene Zeit". Heute versteht er besser, weshalb sich Menschen auf den Weg nach Europa machen und die Strapazen auf sich nehmen. Ob er sich vorstellen kann, dem Haus Erdberg als Ehrenamtlicher erhalten zu bleiben? Das weiß er heute noch nicht. Sollte er wieder vor der Wahl stehen, würde er sich aber erneut für den Zivildienst in einem Flüchtlingshaus entscheiden. Wo? "Im Haus Erdberg. Selbstverständlich!"

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