Judentum und Krankheit

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Nicht nur die jüngste Grippewelle wird viele an den Wert mitmenschlicher Hilfe bei Krankheit erinnert haben. Wie in anderen Religionen, so ist auch im Judentum die Unterstützung von Kranken eine religiöse Pflicht. Die Tradition gebietet Krankenbesuche und Gebete um Genesung. Aber sie stellt auch Regeln auf, die nicht nur von den praktischen Bedürfnissen des Kranken oder dem Glauben an göttliche Heilung bestimmt werden. Sie sind ein Beispiel dafür, wie eine alte religiöse Tradition moderne psychologische Erkenntnisse vorweggenommen hat.

So ist ein Krankenbesuch wichtig, weil er nach jüdischem Glauben das Leiden eines Patienten um ein Sechzigstel lindert - auch eine moderne medizinische Erkenntnis. Aber die Tradition besagt auch, dass alle, außer den engsten Angehörigen, einen Kranken erst ab dem dritten Tag besuchen sollten, um ihm nicht falsche Angst vor einem unmittelbar lebensbedrohlichen Leiden zu machen. Wenn der Patient ein Widersacher ist, gilt die Pflicht zu einem Besuch mit einer besonderen Auflage: Er muss diskret erfolgen, nicht demonstrativ, damit der Betroffene ihn nicht als Schadenfreude missversteht.

Die Erkenntnis, dass Angst, Kränkung und Scham unsichtbare, aber mächtige Lasten sind, spiegelt sich auch in anderen Geboten der jüdischen Tradition. Eine Legende berichtet von einem frommen Gelehrten in Russland, Israel Salanter (1810-83), der einmal sein Zuspätkommen erklären musste. Er sei langsam gegangen, um nicht einen Gehbehinderten zu beschämen, indem er an ihm vorbeieilte. Dabei verwies Salanter auf eine Vorschrift im Religionsgesetz. "Wenn jemand seinen Nächsten öffentlich beschämt, so ist es ebenso, als würde er Blut vergießen", heißt es im Talmud.

Ein gutes Rezept gegen einen Virus, den wir alle nicht nur vor und nach Grippewellen in uns tragen.

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