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Else Lasker-Schüler: Bebend im Licht der Vision

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Gedanken über Werk und Leben von Else Lasker-Schüler.

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Gedanken über Werk und Leben von Else Lasker-Schüler.

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In der expressionistischen Lyriksammlung „Menschheitsdämmerung” ist Else Lasker-Schüler unter dreiundzwanzig Autoren die einzige Frau. Dort steht auch ihre Autobiographie bis 1919: „Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich.”

Erfolgreich weigerte sie sich ein Leben lang, Vernunft anzunehmen. Mit elf Jahren erlitt sie einen Schock. Selber schreibt sie, daß sie vom zweiten Stock des Elternhauses ihrer geliebten Mutter entgegensprang und auf dem Sonnendach der Gartentür landete. Und die Lasker-Schüler lügt nie, auch wenn das, was sie schreibt, nicht stimmt. Daß sie in diesem Alter den Veitstanz bekam, stimmt aber, ebenso ihr künftiges Fernbleiben von der Schule und ihre Sehnsucht nach lebenslangem Kindsein.

Else Lasker-Schüler ist die Hauptperson in so gut wie jeder Zeile, die sie geschrieben hat. Von den vier-, fünfhundert Gedichten kommt vielleicht in zwei Dutzend nicht das erste Personalpronomen in einem seiner Fälle vor. Ich, meiner, mir, mich.

„Ich und Ich” nannte sie das, was ein Drama hätte werden sollen (1940/41). „Denn dieses Drama ist doch der Spiegel der jammervollsten Zerstörung und Auflösung”, schreibt Ernst Ginsberg.

„Und doch sind wir Menschen Gottes freie Ableger. Jedes wahre Gebet ist eine Konzentration... Ich und Ich.”

„Ich und Ich” handelt auf der Herzensbühne der Dichterin. Sie schaut sich selber beim Sterben zu.

Else Lasker-Schülers Armut. Wochenlang soll sie von Obst und Keksen gelebt haben. Phantasievoll abgerissen ist sie dahergekommen. Und immer war sie auf Raub aus, das heißt, sie schnorrte, um nicht zu sagen bettelte.

„O du lieber Peter Altenberg! Du mußt mir das Geld frankiert senden!” • Einmal soll sie ein Gemälde Kokoschkas in einer Wohnung einfach abgehängt und mitgenommen haben. Ihre Zeichnungen, heute kostbare Raritäten, bot sie wie ein Hausierer feil.

So verwirrt die Lasker-Schüler im Leben war, und je älter umso verwirrter, so klar war ihr Verhältnis zu Gott. Einfacher als die Wirklichkeit war für sie die Wirklichkeit über der Wirklichkeit. Engeln begegnete sie nicht nur einmal und nicht nur am Grab der geliebten Menschen: ihrer Mutter und ihres siebenundzwanzigj ährig an Tbc gestorbenen Sohnes.

Else Lasker-Schüler ist eine Mystikerin. Wer nur ihre Gedichte kennt, der kennt zwar den bedeutendsten Teil ihres literarischen Werkes, aber eben nur einen Teil. Ihre Prosaschriften sind entweder Ich-Romane oder kleine Essays, die man im besten Sinn des Wortes Erbauungsschriften nennen könnte. Überrascht stellt man fest, daß dort „eine Seele von einem Menschen” spricht. Und völlig unzeitgemäß spricht sie von Gott, „der sich in der allgemeinen Verdunkelung mitverdunkelt hat”.

Schöpferische Vielfältigkeit, familiäre Wärme, Leidensfähigkeit, konventionslose Exaltiertheit und unerschütterliche Gottestreue — letztere vor allem — zeigen die Größe des Judentums in ihrer Person: „Ein einziger Mensch ist oft ein ganzes Volk. Doch jeder eine Welt mit einem Himmelreich, wenn er Gott aufsprießen läßt in sich.”

Else Lasker-Schüler ist am 22. Jänner 1945 in Jerusalem an angina pectoris, an Einschnürung des Herzens, gestorben. Sie war sechsundsiebzig.

Anfang der sechziger Jahre ist über ihr Grab eine Schnellstraße gelegt worden. 1967 ist ihr Grabstein zufällig nach den Wirren des Sechstagekriegs gefunden worden.

Der Autor ist Leiter der Hauptabteilung „Gesellschaft, Jugend und Familie” im ORF/ Hörfunk.

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