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Lied an die Welt

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ELSE LASKER-SCHÜLER. Sämtliche Gedichte. Mit einem Faksimile des Buches Theben. (1923). Herausgegeben von Friedhelm Kemp. Kösel-Verlag, München 1966. 368 Selten, Leinen, 12 Abbildungen. DM 13.80.

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ELSE LASKER-SCHÜLER. Sämtliche Gedichte. Mit einem Faksimile des Buches Theben. (1923). Herausgegeben von Friedhelm Kemp. Kösel-Verlag, München 1966. 368 Selten, Leinen, 12 Abbildungen. DM 13.80.

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„Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam, im Rheinland. Ich ging bis elf Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande und seitdem vegetiere ich.“

Diese kurze Selbstdarstellung, die Else Lasker-Schüler Kurt Rinthus für seine expressionistische Anthologie „Menschheitsdämmerung“ lieferte, mag wohl besser als manch ausführliche Biographie von Armut und Glanz des Lebens dieser außergewöhnlichen Frau erzählen.

Die Gedichte der Else Lasker- Schüler, die während des Naziregimes überstürzt aus Deutschland floh, in der Schweiz völlig mittelos als Vagabundin lebt, gehören zu den erlesensten Zeugnissen deutscher Lyrik der jüngeren Vergangenheit.

Theben und Elberfeld! In der In- kommensurabilität dieser beiden Welten, der Welt dichterischer Imagination und einer Wirklichkeit, die in ihrer Niederung das harte Wort „vegetieren“ rechtfertigen mag, vollzieht sich das Schicksal einer Rastlosen, für die der Gesang das einzige Mittel ist, um zu überleben.

Aber auch Theben, der orientalische prächtige Zaubergarten, in dem die Dichterin in grandioser Selbststilisierung als Prinz Jussuf herrscht, ist nur die Verdichtung einer unstilllbaren Sehnsucht, die doch im letzten nie einer arkadischen Ersatzwelt, bevölkert von Prinzen und Königen, einer künstlichen Überhöhung der Wirklichkeit, sondern dem Leben selbst gilt, seiner ganzen Fülle, seiner Lust und seinem Schmerz.

Das Ziel dieser Sehnsucht ist die Welt, der Mensch, die Liebe des Menschen vom Orient bis zum Okzident. Dem weit geöffneten Herzen der Suchenden bleiben Welt und Mensch ein ewiges feines Ziel, sie selbst ewig Vagantin, unterwegs. In späteren Jahren besaß sie weder Heim noch Wohnung, sondern hauste nur noch in gemieteten Zimmern. Längere Zeit hindurch findet man sie in den Künstlercafes Berlins. Dort ist Else Lasker-Schüler einer der Brennpunkte der Literarischen Avantgarde der zwanziger Jahre. Hier kommt eine Generation zu Wort, für die das Gedicht, Gradmesser seelischer Erschütterung, die einzig mögliche Antwort ist auf die Chaotik der Zeit. Jäh schnellt die Fieberkurve seelischer Schwingung und Bewegtheit zum Siedepunkt. Entzücken wird zur Ekstase, Liebe zum menschheitstrunkenen Taumel, Sehnsucht steigert sich zum Todesverlangen. Eine Generation zwischen zwei Kriegen, die eben die zum Morden zwangen, die ihre höchste Seinserfahrung aus der Brüderlichkeit, aus dem Glück, Mensch sein zu dürfen, aus der Liebe zum Menschen zu schöpfen bereit war.

Wenn uns heute, nach nahezu einem halben Jahrhundert, die Gedichte einer allerdings über den Expressionismus als literarischer Strömung längst hinausgewachsenen Dichterin vorliegen, so wird man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren können (literarische Qualifikation, Artifizielles und Ewigkeitswert einmal beiseite gelassen), daß in diesen Jahren vielleicht etwas zu Ende gegangen ist, das sich auch heute noch nicht genau bestimmen läßt.

Man hat das Gefühl, als trenne die Generation der Gegenwart, also besonders die Jugend, mehr als nur vier oder fünf Jahrzehnte von der Gedanken- und Gefühlswelt dieser als Revolutionäre und Avantgardisten Verfemten der Zwischenkriegszeit.

Wo ist dieses Etwas zu suchen? Wo liegen seine Wurzeln? In der Romantik? Im Sturm und Drang? Grinst es verzerrt nicht auch aus dem Fanatismus und der Pseudoromantik des Nationalismus entgegen? Ernüchterung, Illuisionslosdg- kedt und eine vor allem an Sachwerten, gutem Verdienst und Erfolg orientierte Lebenshaltung scheiden die Jugend der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheinbar durch Abgründe von dem, was noch die Väter bewegte.

Trotzdem ist es ein Verdienst des Kösel-Verlages, nun auch eine überarbeitete Fassung des lyrischen Werkes der Dichterin Else

Lasker-Schüler vorzulegen.

Das Werk der Else Lasker-Schüler läßt Sich wie das Werfels oder

Heyms oder Däublers auf eine kurzlebige literarische Strömung nicht mehr einengen.

Der Bogen des lyrischen Gesamtwerkes der Dichterin ist weit gespannt. Er reicht von der dunklen Leidenschaftlichkeit der Styx- Gedichte, die unverändert in die Sammlung aufgenommen wurden, über die asketisch ehrfurchtsvolle Strenge der biblischen Balladen,

1913 Karl Kraus gewidmet, die orientalische Ekstatik der Liebesgedichte bis zur Schlichtheit etwa eines Nachtgebetes oder jenes Zweizeilers, in dem die Dichterin den Tod Georg Trakls betrauert:

„Georg Trakl erlag im Krieg, von eigener Hand gefällt. So einsam war es in der Welt. Ich hatt’ ihn lieb.“

Die letzten Gedichte der Sammlung „Mein blaues Klavier“, die zwei Jahre vor dem Tod der Dichterin in Jerusalem erschien, Endstation einer langen Reise, geben erschütternd Zeugnis von der Müdigkeit dieser bis zuletzt sich selbst, dem Prinzen Jussuf von Theben Getreuen. Wissen um Vergeblichkeit und Resignation drückt das Gedicht „Mein blaues Klavier“ aus, ein Trauerlied um das blaue Klavier der Poesie, über das sich Spinnweben legten, „seitdem die Welt verrohte“.

Die Ausgabe enthält neben einem verkleinerten Faksimile des Buches Theben, eine Biographie, von Margarethe Küpper zusammengestellt, die auch bis jetzt nicht veröffentlichtes Bildmaterial bringt. In die Sammlung aufgenommen sind vor allem die späteren Fassungen der einzelnen Gedichte. Interessant und informativ ist das Verzeichnis der Widmungen sowie der Abdrucke in Zeitungen, Zeitschriften und Buchausgaben. Die weniger auf Chronologie als auf Thematik und von der Dichterin angedeutete Zusammenhänge bedachte Anordnung dient der Geschlossenheit des Werks.

Mag also gerade heute einer weitgehend „abgekühlten“ und Gefühlswerten mißtrauisch gegenüber- steheniden Generation der Zugang zum lyrischen Gedicht schwerfadlen, so wird vielleicht doch der eine oder andere die bunte Melodie eines anderen Lebens in einer anderen Welt nicht ohne Teilnahme hören.

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