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Genie mit 20

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Rimbaud ist nicht einfach ein Dichter unter anderen Dichtern. Er ist ein Sonderfall, ein Ausnahmsmensch, der sich — wenn auch mit allen Lebenskräften — nur wenige Jahre dem Schreiben verschrieb. Er wurde mit einem Meteor verglichen, sein Schaffen wurde Pubertätskrise und Entwicklungsphase genannt. Die Sprachbegabung war exorbitant. Als vierzehnjähriger Schüler verstreute er wie aus einem Füllhorn tadelfreie, frappierende lateinische Hexameter, Hunderte und Aberhunderte. Die Gedichte des Fünfzehnjährigen in der Muttersprache, denen man Anklänge an noch verehrte Zeitgenossen nachsagt, zeigen eine zeitlose originelle Leichtigkeit, eine Spielfreude, aber auch einen neuen Blick. In keiner der vielen Phasen seiner kurzen Kunstphase hält er sich lange auf, hält er es lange aus.

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Rimbaud ist nicht einfach ein Dichter unter anderen Dichtern. Er ist ein Sonderfall, ein Ausnahmsmensch, der sich — wenn auch mit allen Lebenskräften — nur wenige Jahre dem Schreiben verschrieb. Er wurde mit einem Meteor verglichen, sein Schaffen wurde Pubertätskrise und Entwicklungsphase genannt. Die Sprachbegabung war exorbitant. Als vierzehnjähriger Schüler verstreute er wie aus einem Füllhorn tadelfreie, frappierende lateinische Hexameter, Hunderte und Aberhunderte. Die Gedichte des Fünfzehnjährigen in der Muttersprache, denen man Anklänge an noch verehrte Zeitgenossen nachsagt, zeigen eine zeitlose originelle Leichtigkeit, eine Spielfreude, aber auch einen neuen Blick. In keiner der vielen Phasen seiner kurzen Kunstphase hält er sich lange auf, hält er es lange aus.

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Sein Gemüt, das aus Frömmigkeit und Mustergültigkeit in Aufruhr und Empörung umschlägt, treibt und hetzt ihn. Die Sprache wird zum Ventil angestauter Wut, einer Wut, die sich an Politik, am Einmarsch der Deutschen (Paris, 1871), an verständnislosen Bibliotheksbeamten, an der schablonenhaften Blumenfreude zeitgenössischer Autoren, am verflachten Ideal der Welt entzündet. Er liest, träumt, verflicht und vertauscht Lektüre und Realität, zerbricht sie, formt sie um. Er läßt sich von Schriften über Magie, Kabbale, Okkultes jeder Art, Alchemie, Philosophie leiten. Er stellt mit sechzehn Jahren das Lebensprogramm des Dichters auf, der ein Seher zu sein und die Menschheit zu lehren hat. Vor unendlicher Zeit, in der Schule, die er verlassen hat, auf deren Preise und Auszeichnungen er pfeift, vor zwei Jahren, als er noch lateinische Verse goß, hatte er Apol-lon erblickt, der ihm die flammenden Worte an die Stirn schrieb: „Tu vates eris“.

Damals schon war „der Seher“ sein Ideal. Jetzt aber heißt es Ernst machen: alle Sinne verstören, in alle Tiefen tauchen, Liebe, Laster, Verbrechen, Leid, alles kennenlernen: ,41 s'agit d'arriver ä l'inconnu“ — man muß im Unbekannten ankommen. „Je est un autre“: Ich ist ein andrer. Er nimmt es auf sich, der Übermensch zu werden, der Erleuchtete, der Erneuerer. In einer Symbiose mit dem um zehn Jahre älteren Dichter Verlaine, die er später voll Entsetzen und Ekel die Hölle nennt, ergibt er sich „dem Laster“, dem Rauschgift, der äußerlichen äußersten Verwahrlosung. Er war ein Hippie, der unter Brücken schlief,mit verfilztem Haar und zerrissenen Hosen ungewaschen in Schenken saß und Absinth soff. Losgelöst und auf sich zurückgeworfen, schuf er die unsterblichen Prosagedichte der „Illuminations“, in denen die gesamte denk- und schaubare Welt in Sprachkaskaden und Sprachsplittern, zerstückt, gefeilt, visionär erlebt und neugeformt aufersteht.

Der Höhe des Aufschwungs gleicht der Fall in reuige Reflexion. Mit achtzehn stellt er in Aphorismen, Aufschreien und Betrachtungen nicht nur die Hölle dar, sondern macht reinen Tisch mit allem, mit Wunsch und Hoffnung, mit dem Einmaligen und Außergewöhnlichen. Das Unerhörte ist eben unmöglich. Das Rauschgift mag Vehikel sein, aber es führt zu keinem Ziel. Ein Jenseits von Gut und Böse ist dem Getauften unerreichbar. Rimbaud hört zu dichten auf. Das sagt sich leicht. Wie ist es zu erklären?

Seine souveräne Sprachbegabung war nicht nur Mittelpunkt seiner Persönlichkeit, sondern willkommenes Mittel im Kampf um das Unerreichbare. Schwört er dem Kampf ab, so wird das Mittel unnütz. Dieser vielleicht eigenartigste, vielleicht begnadetste, vielleicht bedeutendste Dichter hatte sein Ausdruckswerkzeug nicht — wie alle andern — für das Werk nötig, sondern im Grund nur zur Klärung seines Ichs und zur Verdolmetschung des Visionären. Reue und christliche Bindungen lassen ihn die Frage an sich richten, ob nicht Barmherzigkeit das einzig Wichtige sei. Wie ein Wetterleuchten, wie ein Hoffnungsschimmer taucht „Afrika“ und „Tätiges Leben“ in seinem Denken auf. Es muß alles anders werden, anders angegangen werden als bisher. Gedichte auch weiterhin? Unmöglich. Seine Entscheidung erinnert an das „Alles oder nichts“ der heiligen Therese von Lisieux, erinnert an Kierkegaards „Entweder-Oder“.

Rimbaud ist 20 Jahre alt, als er die Weichen stellt. Er geht als (einfacher Arbeiter in den Orient, rückt zum Aufseher auf, wird Handelsmann, zieht ins Innere Afrikas usw. Er spart, gedenkt einen Hausstand zu gründen. Zu den „Niedrigen“ ist er mild. Von den „Höheren“ wird er übers Ohr gehauen. Seine Korrespondenz beschränkt sich auf Briefe an Mutter und Schwester. Die Mutter ist Bauerntochter aus den Arden-nen an der belgischen Grenze, hart, streng, .nicht mütterlich. Der Vater Rimbauds, der aus Burgund kam und provencalischer Abkunft war, hatte sie nach der Geburt des fünften Kindes verlassen. Als Berufsoffizier viel in Afrika, hatte er den Koran ins Französische übersetzt. An Hand dieser Leistung lernte der Dichter, der nun Orientale geworden war, Arabisch. Die Brüder der Mutter waren Landstreicher und Säufer. Einer brachte es auf 94 Jahre, wies auf dem Totenbett das Sakrament zurück und forderte einen Liter Wein, den er bis zum letzten Tropfen trank. Arthur Rimbaud starb am 10. November 1891 mit 37 Jahren an den Folgen eines zu spät operierten Sarkoms in Marseille.

Fragt man, was über die Sprach-originalität hinaus die einmalige und enorme Wirkung Rimbauds ausmacht, so muß man die Ursachen in seiner Jugend suchen, in der Tatsache, daß die ganze Fülle des Gedichteten zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr hervorbrach. Es fehlt die Erfahrung des Alters, der besonnene Rückblick etwelcher Weisheit; das Feuer des Genialen ist frei von der Asche jeglicher Sterilität oder Gewöhnung. Es ist einzigartig, nur die Kraft hundertfachen Erblühens zu erleben, ohne daß man durch Fruchtertrag, Verwelken oder Verdorren abgelenkt oder ernüchtert würde. Da die Kunst Rimbauds nie kindisch, nie unreif oder unfertig ist, überspringt sie das Monströse oder Aufgeblasene der Pubertät und bietet die Quintessenz dessen dar, was Jugend fühlt und zu sagen hat.

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