"Wer hasst, vergiftet sich nur selbst“

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Als "Cellistin von Auschwitz“ hat Anita Lasker-Wallfisch zur Erbauung Josef Mengeles die "Träumerei“ von Schumann gespielt. Heute erzählt sie jungen Menschen von ihrem Überleben in der Hölle - und vom Wahnsinn, ein ganzes Volk zu hassen.

Die alte Dame hat Schmerzen. Schritt für Schritt quält sie sich die Stiege hinab in den Keller des Wiener Traditions-Cafés Korb. Es sei die Hüfte und der Tag sei anstrengend gewesen, sagt sie und wuchtet ihre metallene Gehhilfe Stufe um Stufe in die Tiefe. Doch Hilfe? Nein danke, die brauche sie nicht.

Es ist eine starke, unbeugsame Frau, die sich in der "artlounge“ des Korb mit einem Seufzer der Erleichterung niederlässt; hinter ihr Peter Weibels Fototapete, die eine Bücherwand simuliert. Den ganzen Tag über hat sie Interviews gegeben und dann in Wien-Meidling aus ihrem Buch "Ihr sollt die Wahrheit erben“ gelesen (siehe unten rechts). Während sie seit Jahren in deutsche Schulen eingeladen wird, ist es hierzulande ihr erster, größerer Auftritt. "Österreich“, meint sie nüchtern, "hinkt hier eben ein bisschen nach, nicht wahr?“

Die Einladung kam spät - aber nicht zu spät. Noch ist Anita Lasker-Wallfisch am Leben. Noch kann die 85-Jährige authentisch berichten vom mörderischen Wahnwitz, der ihr als "Cellistin von Auschwitz“ widerfahren ist. Den Beweis für das Unfassbare trägt die alte Dame in ihrer Haut. "69 388“ hat man auf ihren linken Arm tätowiert, damals 1943, bei ihrer "Willkommens-Zeremonie“ im KZ. Es war der erste Schritt einer systematischen Entmenschlichung.

"Irgendwo im Osten verscharrt“

Als Anita Lasker dieses Trauma erlebt, ist sie gerade einmal 18 Jahre alt - und hat schon zahllose andere Demütigungen hinter sich. Schon in der Schule wird die 1925 in Breslau (heute Wrocław) geborene, jüngste Tochter einer assimilierten, jüdischen Familie mit Antisemitismus konfrontiert. Als sich die Lage dramatisch zuspitzt, versucht Vater Alfons Lasker, ein angesehener Rechtsanwalt und Bruder des US-Amerikanischen Schach-Meisters Edward Lasker, in immer verzweifelteren Briefen, seine zwei jüngeren Töchter in Sicherheit zu bringen. Der ältesten Tochter Marianne, einer begeisterten Zionistin, ist bereits die Flucht geglückt. Doch die Auswanderungsversuche der restlichen Familie schlagen fehl. Am 9. April 1942 werden Alfons Lasker und seine Ehefrau Edith, eine bekannte Geigerin, schließlich deportiert. Wann, wo und wie sie gestorben sind, hat ihre Tochter nie erfahren. Vermutlich wurden diese "kulturverrückten“ Eltern, die ihren drei glücklichen Töchtern Samstagnachmittag bei Kaffee und Gebäck Goethes Faust und Schillers Don Carlos vorgelesen hatten, "irgendwo im Osten verscharrt“.

Anita und ihre ältere Schwester Renate sind fortan auf sich allein gestellt. Bei ihrem "Arbeitsdienst“ in einer Papierfabrik knüpfen sie Kontakte zu französischen Kriegsgefangenen und stellen ihnen gefälschte Urlaubsscheine für Zivilarbeiter aus. Im September 1942 versuchen sie selbst nach Paris zu fliehen, werden jedoch noch am Bahnhof von der Gestapo verhaftet. Monate später verurteilt man sie wegen Urkundenfälschung zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen. Im Dezember 1943 landet Anita schließlich als erste in der Hölle von Auschwitz.

"Da stand ich also, splitternackt und ohne Haare, mit einer Nummer auf dem Arm“, schreibt sie in ihrem Buch. Und doch bringt die junge Frau etwas mit, das ihr in Auschwitz ein Gesicht gibt und sie unverzichtbar macht: das Cello-Spiel. "Wir mussten morgens Märsche spielen für die Leute, die hinaus zu den Fabriken gegangen sind - und abends für diejenigen, die zurückgekommen sind“, erinnert sich Lasker-Wallfisch an ihre Zeit in Alma Rosés Lager-Orchester. "Das hat uns das Leben gerettet.“

Manchmal entsprach man auch besonderen Wünschen von SS-Leuten, die in den Orchester-Block gekommen waren, um sich von den strapaziösen Selektionen zwischen Leben und Tod zu erholen. Neben rauchenden Schloten spielte man dann "An der schönen blauen Donau“ oder für Josef Mengele, den berüchtigten Lagerarzt, Robert Schumanns "Träumerei“. "Das große Rätsel war und ist, wie Leute wie Mengele, die immerhin gewusst haben, dass es eine, Träumerei‘ von Schumann gibt, gleichzeitig solche Teufel sein konnten“, sagt die alte Dame heute und stützt mit der Hand ihre Stirn. Ob sie je versucht habe, sich vorzustellen, was in den Köpfen solcher Menschen vorgegangen sei? "Das kann sich keiner vorstellen“, antwortet sie. "Wir Menschen haben eben alle Zutaten in uns, und es kommt nur darauf an, welche gefördert werden und welche nicht.“

Die wichtigste Zutat der 18-jährigen Anita Lasker und ihrer Schwester Renate, die sie durch Zufall im KZ wiederfindet, ist unbedingter Lebenswille. Die Schwestern überleben wie durch ein Wunder die Mordmaschine Auschwitz, sie überleben die Baracke Bergen-Belsen, in die man sie im November 1944 verlegt - und sie überleben die Tage vor der Befreiung am 15. April 1945, als um sie herum Menschen wie Fliegen sterben.

Es ist eine quälend ungewisse Zukunft, die sich ihnen außerhalb der Lagertore offenbart. "Wir waren als deutsche Juden ‚displaced persons‘“, erinnert sich Lasker-Wallfisch. "Wir hatten keine Ahnung, wo wir hingehören.“ Ein knappes Jahr lang muss sie mit ihrer Schwester als Englisch-Dolmetscherin in Belsen verharren, bis endlich die Ausreise nach London gelingt.

Dort beginnt für die 20-Jährige ein zweites Leben: Sie studiert endlich Cello, gründet mit anderen das English Chamber Orchestra, tourt mit ihm durch die bekanntesten Konzertsäle der Welt, heiratet ihren Breslauer Schulfreund, den Pianisten Peter Wallfisch, den sie zufällig in Paris wiedergetroffen hat, und bekommt mit ihm zwei Kinder.

Um 50 Jahre verspätete Fragen

Von ihrem ersten Leben erzählt sie kein Wort. Erst 40 Jahre später beginnt sie sich Notizen zu machen und ein Buch zusammenzustellen, durch das ihre Kinder - Sohn Raphael ist mittlerweile selbst berühmter Cellist, Tochter Maya Psychotherapeutin - "die Wahrheit erben sollen“. 1996, als ihr Buch erscheint, wird sie plötzlich von einem Interview zum nächsten gezerrt und Fragen gefragt, von denen sie "gerne gehabt hätte, dass man sie mir 50 Jahre früher stellt.“

Doch noch ist es nicht zu spät. Noch kann sie jungen Menschen die Möglichkeit eröffnen, einer Überlebenden von Auschwitz zu begegnen - und damit besser gegen die kruden Thesen jener gewappnet zu sein, die bis heute behaupten, dass es den Holocaust nie gegeben hätte.

Das ist heute ihre Mission - wie auch das Plädoyer für Versöhnung. Was also ist geworden aus ihrem Bekenntnis vom 8. Juni 1945, dass sie das deutsche Volk "ausnahmslos“ hasse? "Ich kann doch heute nicht die jungen Deutschen hassen“, sagt diese alte, unbeugsame Frau im Keller des Café Korb. "Ich setze mich nicht auf das Niveau der damaligen Verbrecher. Wer hasst, vergiftet sich schließlich nur selbst.“

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