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Ein ambitionierter junger Engländer

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Unter den zahlreichen Besuchern des Alpenraumes, zu denen um diese Zeit vor allem auch die Engländer gehörten, befand sich eines Tages ein junger Mann, der aus einfachen Verhältnissen stammte und im Auftrag eines Verlages im Alpengebiet Zeichnungen anfertigen sollte, mit denen dann Bücher über die Alpen, die von anderen geschrieben worden waren, illustriert werden sollten. Es war Edtoard Whymper. Ihm sollte am 14. Juli 1865 die Erstersteigung des Matterhorms gelingen. Whymper ist in der damaligen Zeit wohl eine Einzelerscheinung gewesen, denn wer sonst aus England herüberkam, gehörte doch meistens den gehobenen, materiell auch begüterten Schichten an, die es sich leisten konnten, Wochen oder Monate außerhalb ihrer Heimat zu verbringen, um Bergfahrten zu unternehmen.

Nach Besuchen in den verschieden-•ten Schweizer und französischen Alpengebieten kam Whymper eines Tages an den Fuß des Matterhorns. Dieser noch unbestiegene Viertausender erregte sofort seine Phantasie und seinen Eroberungswillen. Es kam schon sehr bald zur Begegnung mit dem zweiten großen Bergsteiger, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, das Matterhorn zu ersteigen, mit Jean-Antoine Carrel. Carrel lebte in Valtournanche am Südfuß des Matterhorns. Ursprünglich Soldat, wandte er sich bald dem Beruf des Bergführens zu.

Zwischen 1857 und 1865 18 Versuche

Die Erstbesteigung des Matterhorns durch Edward Whymper war nicht etwa der erste Versuch zur Bezwingung dieses Berges überhaupt. Zwischen 1857 und der Erstbesteigung am 14. Juli 1865 wurden nicht weniger als 18 Versuche gemacht, diesen stolzesten aller Berge zu bezwingen. Es war im wesentlichen ein grandioses Duell zwischen Jean-Antoine Carrel und Edward Whymper. Wiederholt gemeinsam, aber auch unabhängig voneinander hatten sie sich an die Lösung dieser wohl schwierigsten alpinen Aufgabe gemacht. Die beiden ersten Versuche erfolgten 1857. Zuerst durch J.-A. Carrel mit J. J. Carrel (insgesamt vier Angehörige der Familie

Carrel waren an den Versuchen bis 1865 beteiligt) und dem Seminaristen Ami Gorret von Breuil über die Arete du Lion nach der Tete du Lion auf 3723 Meter Höhe. Der zweite Versuch durch v. Carrel und G. Maquignaz führte über die gleiche Route nur auf 3450 Meter Höhe.

1862 war ein richtiges Rekordjahr hinsichtlich der Zahl der Versuche, das Matterhorn zu bezwingen. Nicht weniger als sieben Angriffe, der neunte bis fünfzehnte, erfolgten, und immer noch trotzte der Berg. Ein Anwärter von Format tauchte wieder auf: T. S. Kennedy. Schon im Jänner, ohne Ski oder Schneereifen, gelangte er am Hörnligrat auf 3400 Meter, doch ein eisiger Schneesturm zwang zum Rückzug. Im Juli

1862 war Hochsaison am Matterhorn, aber ausschließlich auf der italienischen Seite, die Schweizer Seite galt damals merkwürdigerweise als un-besteigbar. Zunächst kamen Whymper und Macdonald mit zwei Führern bis auf 3657 Meter und anschließend mit J.-A. Carrel und Pession auf 3960 Meter. Dann unternahm Whymper einen tollkühnen Alleingang, da ihm sowohl die Führer von Breuil als auch jene von Zermatt den Dienst verweigerten, und stellte mit 4084 Meter einen neuen Höhenrekord auf. Durch diesen Erfolg bekehrt, schloß ' sich J.-A. Carrel wieder Whymper an, sie erreichten aber nur knapp 4000 Meter. Nochmals versuchte es Whymper, nur von dem buckligen Träger Luc Meynet begleitet, und schlug mit 4102 Meter seinen eigenen Rekord. Aber dieser letztere war nur von kurzer Dauer, denn wenige Tage später, am 28. Juli, erklomm Professor Tyndall mit vier Führern, darunter J.-A. Carrel als Chef, wohlausgerüstet mit Steigeisen und Strickleitern, die italienische Schulter mit 4258 Meter Höhe, die bei diesem Anlaß „Ptc Tyndall“ getauft wurde.

Zwei winkende Gestalten ...

Nach diesem Hochbetrieb kam das Jahr 1863 mit nur einem einzigen Versuch, dem sechzehnten insgesamt: Whymper und J.-A. Carrel, zugleich Gegner und Kameraden, schlössen sich wieder zusammen, mußten aber auf 4047 Meter aufgeben. Das Matterhorn schien unbesiegbar zu sein. Und so wurde im Jahre 1864 kein einziger Versuch für seine Besteigung unternommen.

Trotzdem wollten sich weder Whymper noch Carrel endgültig geschlagen geben. Im Juni 1865 griff der zähe Engländer wieder zum Eispickel und zum Seil. Er engagierte nicht nur den berühmten Führer Michel Croz aus Chamonix sowie Christian Almer, Franz Biner und den Träger Meynet, sondern versuchte es diesmal von einer neuen Seite, dem südöstlich gelegenen Furggen-Couloir. Heftiger Steinschlag führte in nur 3414 Meter Höhe knapp an einer Katastrophe vorbei.

Auf der anderen Seite stellte nun J.-A. Carrel, von prominenten Mitgliedern des Italienischen Alpenklubs großzügig unterstützt, eine ausschließliche Fuhrerequipe zusammen: er selbst mit Charles Gorret und Jean-Joseph Maquinaz. Nach vier Tagen, am 14. Juli 1865 mittags, erreichten sie fast 4300 Meter Höhe, und der Sieg schien in greifbarer Nähe zu sein, als urplötzlich oben auf dem Gipfel zwei winkende Gestalten erschienen. Tief erschüttert trat J.-A. Carrel mit seinen

Gefährten den Rückzug an. Whymper war ihm zuvorgekommen...

In Breuil, wo ihm J.-A. Carrel eine Absage erteilt hatte, lernte Whymper den 18 jährigen Lord Francis Douglas kennen, der lebhaftes Interesse für eine Besteigung des Matterhorns bekundete. Gemeinsam eilten sie über den Theodulpaß nach Zermatt hinüber, engagierten den Führer Peter Taugwalder Vater und dessen Sohn Peter als Träger. Aber auch Michel Croz war unerwartet in Zermatt mit zwei englischen Touri-

sten, Reverend Charles Hudson und .Robert D. Hadow, ebenfalls Matter-hornanwärter, erschienen. Beide Gruppen schlössen sich unter Führung des 36jährigen Michel Croz zusammen, verließen am 13. Juli abends Zermatt, um am Hörnli zu biwakieren. In der Morgendämmerung des 14. Juli brachen sie auf, folgten dem Hörnligrat und erreichten um 13.40 Uhr den 4477 Meter hohen Matterhorngipfel — nach achtzehn vergeblichen Versuchen, und zwar fünfzehn auf italienischer und nur drei auf der Schweizer Seite.

Nach dem Sieg kam die Katastrophe

Doch dieser Erfolg sollte teuer bezahlt werden. Hören wir Whymper über die auf den Sieg folgende Katastrophe:

„Einige Minuten (nach Beginn des Abstieges) später band ich mich am jungen Peter an, lief den anderen nach und erreichte sie, als sie eben das Hinabsteigen der schwierigen Stelle begannen. Es wurde die größte Vorsicht gebraucht. Immer bewegte sich bloß einer, und erst wenn er festen Fuß gefaßt hatte, folgte der nächste. Wir beide folgten den übrigen in geringer Entfernung und waren von ihnen getrennt, bis Lord Douglas mich etwa um 13 Uhr bat, ich möge mich an den alten Peter anbinden. Er fürchtete nämlich, wie er sagte, daß Taugwalder, wenn ein Ausgleiten vorkomme, nicht fest auf den Füßen bleiben werde.

Einige Minuten später eilte ein Bursche, der ein scharfes Auge hatte, zu Seiler ins Monte-Rosa-Hotel und erzählte, daß er vom Gipfel des Matterhorns eine Lawine gegen den Matterhorngletscher hin habe fallen sehen. Dem Jungen wurde verwiesen, daß er albeme Geschichten erzähle, aber er sprach die

Wahrheit und hatte folgendes gesehen:

Michel Croz hatte sein Beil beiseite gelegt und beschäftigte sich mit Herrn Hadow, um demselben größere Sicherheit zu geben. Er hatte ihn an den Beinen gefaßt und brachte seine Füße, einen nach dem anderen, in die richtige Lage. Soviel ich weiß, war keiner im eigentliche Hinabsteigen begriffen. Mit Gewißheit kann ich nicht sprechen, weil ich die beiden Vordersten wegen einer dazwischen liegenden Fels-

masse zum Teil nicht sehen konnte, aber aus den Bewegungen ihrer Schultern mußte ich schließen, daß Croz, nachdem er das eben Erwähnte getan hatte, sich umdrehen wollte, um einen oder zwei Schritte weiter zu gehen, als Herr Hadow ausglitt, gegen ihn fiel und ihn umwarf. Ich hörte von Croz einen Ausruf des Schreckens und sah ihn und Hadow niederwärts fliegen. Im nächsten Moment wurden Hudson und unmittelbar darauf auch Lord Douglas die Füße unter dem Leib weggerissen. Dies alles war das Werk eines Augenblicks. Sowie wir Croz aufschreien hörten, pflanzten der alte Peter und ich uns so fest auf, als das Gestein uns gestattete. Das Seil war zwischen uns straff gezogen, und der Ruck traf uns, als wenn wir bloß einer wären. Wir erhielten uns, aber zwischen Taugwalder und Lord Douglas riß das Seil. Einige Sekunden lang sahen wir unsere unglücklichen Gefährten auf den Rücken niedergleiten und mit ausgestreckten Händen nach einem Halt suchen. Noch unverletzt kamen sie uns aus dem Gesicht, verschwanden einer nach dem anderen und stürzten von Felswand zu Felswand auf den Matterhorngletscher oder in eine Tiefe von beinahe viertausend Fuß hinunter. Von dem Augenblick, da das Seil riß, war ihnen nicht mehr zu helfen. So starben unsere Gefährten!“

Whymper und die beiden Taugwalder kamen mit dem Leben davon. Der besiegte Berg hatte in letzter Stunde doch noch fürchterliche Rache genommen.

Drei Tage später, am 17. Juli 1865, setzten Jean-Antoine Carrel und Jean-Baptiste Bich, von Breuil aus aufsteigend, auch ihrerseits den Fuß auf den Gipfel des Monte Cervino, der „Becca“, wie er damals noch im Volksmund von Valtournanche genannt wurde.

100 Jahre Matterhorn“ und die Folgen

Selbst ein so einmaliger Berg, wie das Matterhorn, blieb nicht vor den Gefahren der Technisierung bewahrt. Sowohl auf Schweizer wie auf italienischer Seite gab es schon Pläne zur Errichtung von Seilbahnen bis auf den Gipfel. Doch konnten derartiger Versuche dank energischer internationaler Proteste vereitelt werden. Aber noch immer fehlt ein gesetzlicher Schutz für das Matterhorn, Und es scheint uns, daß der bekannte Schweizer Schriftsteller Walter Schmid die rechten Worte gefunden hat, wenn er in seinem neuen Buch „Menschen am Matterhorn“ (Hallwag Verlag, Bern) sagt: „Bald wird man in Zermatt und im Val-tournanch mit dem Schlagwort

,100 Jahre Matterhorn' mit zeitgemäßem Pomp große Feste feiern. Bankette mit illustren Gästen, Fahnen und Fackeln, Reden und Pamphleten. Das Matterhorn wird in allen Zeitungen der Welt in Bildern und in Worten verherrlicht werden. Whymper, Carrel und Taugwalder werden in fetten Lettern mit den Namen der Großen der Politik rivalisieren. Es wird ein großer Tag für das Matterhorn sein. Ein großer Tag, aber ein Tag in Furcht. Sein größter Tag widerfährt ihm erst, wenn wir es von der Furcht vor den Menschen befreien, wenn es als Terra sacra für alle Zeit vor den habgierigen Zu- und Eingriffen des Homo sapiens geschütztut“

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