Aus lust am Runterschauen

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Die Liebe zu den Bergen war keine auf den ersten Blick. Es brauchte lange bis die Hässlichkeit der Alpen überwunden und aus den Bergen ein Spielplatz für Wanderer und Bergsteiger wurde.

Am Beginn des Bergsteigens steht eine Wette, ein Befehl und ganz am Anfang die Begierde: 1336 steigt der Dichter Francesco Petrarca auf den Mont Ventoux, einen nicht ganz 2000 Meter hohen einsam aufragenden Berg in der Provence. In einem Brief erklärt Petrarca seine für die Zeit beispiellose Tat: "Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, den Windigen, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen, einzig von der Begierde getrieben, diesen außergewöhnlich hohen Ort mit eigenen Augen zu sehen.“

Das Bergsteigen allein aus Freude und um des Selbstzwecks willen ist erfunden. Heute ist der Mont Ventoux eine Bergwertung der Tour de France. Und statt an die Erfindung des Bergsteigens erinnert eine Gedenkstätte an das erste prominente Dopingopfer im Radsport. 1967 brach am Ventoux der britische Radweltmeister Tom Simpson am letzten Kilometer vor dem Ziel zusammen und starb - vollgepumpt mit einem Cocktail aus Amphetaminen, Betäubungsmitteln und Alkohol; seine letzten Worte sollen gewesen sein: Setzt mich wieder aufs Rad!“

Doch zurück ins Mittelalter und zu Petrarca: Der war seiner Zeit auch in der Leidenschaft für den Berg weit voraus, mit der Lust am Bergsteigen kann er keinen anstecken. 150 Jahre lang steigt niemand rauf und auch im Sommer 1492 braucht es einen Befehl, damit wieder jemand losmarschiert: Frankreichs König Karl VIII. befiehlt seinem Kammerherrn Antoine de Ville auf den Mont Aiguille zu klettern. Warum? Der steil aufragende 2087 Meter hohe Berg in den französischen Alpen gilt als unersteigbar - das juckt den König. Und er bekommt, was er will: Mit Leitern ausgerüstet, von zwei Priestern, einem Notar und Gehilfen begleitet, macht der Kammerdiener das Unmögliche möglich. Sechs Tage bleibt der Trupp auf dem Gipfel - böse Zungen behaupteten, sie fürchteten sich vor dem Abstieg …

Keine Liebe auf den ersten Blick

Die Liebe zu den Bergen war jedenfalls keine auf den ersten Blick. Kurt Tucholsky hat diesen generellen Widerwillen gegen das Hohe und Schroffe und Spitze einmal so zusammengefasst: "Die Berge, … das war eine grobe Sache, pfui. Sie fügten sich in kein ästhetisches System ein, unübersichtlich und frech lagen sie da, roh, unbehauen - da war keine Klarheit und keine Vernunft.“ Und das galt nicht nur für die Menschen in Europa, in den Alpen: Im Reisebericht "Durchs wilde Land“ des japanischen Haiku-Dichters und Reiseschriftstellers Matsuo Basho heißen die Pässe, die er Ende des 17. Jahrhunderts auf seinem Weg überqueren muss vielsagend Inumodori ("Da-kehrt-jeder-Hund-um“) und Komagaeshi ("Pferd-wird-heimgeschickt“). Wieder im Tal angelangt ist das Resümee Bashos eindeutig: "Diese Pässe hatten mich dermaßen erschöpft, dass ich mir nur noch hinlegen konnte.“

Im Eindringen in die Bergwelt sehen die Menschen früherer Epochen ausschließlich eine gefährliche Notwendigkeit. Bis weit ins 18. Jahrundert gilt das Urteil des römischen Geschichtsschreibers Livius von der "foeditas alpium“, der Hässlichkeit der Alpen. "Gott, gib mich meinen Brüdern zurück, damit ich sie warnen kann, diesen qualvollen Ort zu meiden“, betet von dieser Abneigung gegen alles Alpine geprägt ein englischer Mönch, als er im Mittelalter den Gotthard-Pass auf seinem Weg nach Rom überquert. Noch 1760 verhängt Johann Joachim Winckelmann, dem man als Begründer der modernen Kunstwissenschaften durchaus Sinn für das Schöne zusprechen darf, auf dem Weg über den Gotthard die Fenster seiner Kutsche, um sich den Anblick der Bergwelt aus nächster Nähe zu ersparen. Doch es dauert nur mehr wenige Jahrzehnte, bis sich die Einstellung gegenüber den Bergen ins Gegenteil verändert.

Wandel der Wahrnehmung

So sieht Johann Gottfried Seume auf seinem "Spaziergang nach Syrakus“ denselben Ort mit völlig anderen Augen: "Es müsste das größte Vergnügen sein, einige Jahre nacheinander Alpenwanderungen machen zu können. Welche Verschiedenheit der Gemälde hat allein der Gotthard? Kornfelder wogen um seine Füße, Herden weiden um seine Knie, Wälder umgürten seine Lenden, wo das Wild durch die Schluchten stürzt …“

Was hat diesen Wandel in der Wahrnehmung ausgelöst? Tucholsky bringt es auf den Punkt: "Das Achtzehnte macht alles wieder gut“ - im 18. Jahrhundert wird die Abneigung gegen die Berge vom wissenschaftlichen Interesse an den Bergen abgelöst, die Bergwelt wird entzaubert, während sich die Menschen von ihnen verzaubern lassen. Tucholsky kommentiert diesen Sinneswandel lakonisch: "Die Erde hält gutwillig still, wenn die Reisenden über sie dahinklettern, und es ist ihr gleichgültig, wie man sie anschaut. Schilderungen sind nur für den Schilderer charakteristisch.“

Zum ersten Schilderer der Alpen nach Petrarca und Geburtshelfer des Alpinismus avanciert der Genfer Philosophieprofessor und Naturforscher Horace Bénédict de Saussure: "Gratuliere mir! Ich komme von der Eroberung des Mont Blanc!“, ruft er einem Freund zu, nachdem er der Bergsteigerei endgültig zum Durchbruch verholfen hat. Am 3. August 1787 um 11 Uhr erreicht Saussure den höchsten Gipfel der Alpen.

Die ersten Bergssteiger

Auf den Mont Blanc geführt wurde der Gelehrte vom Kristallsucher Jacques Balmat. Der hatte im Vorjahr mit dem Arzt Michel-Gabriel Paccard einen Weg auf die Eiskuppe gefunden. Angespornt vom Preisgeld, das Saussure denen versprochen hatte, "die einen gangbaren Weg zum Gipfel finden.“ 20 Louisdor waren die Belohnung, auf den heutigen Goldpreis umgerechnet rund 6000 Euro. Eine gut investierte Summe. Der Spender Saussure verarmt zwar, doch die Extravaganz seiner Unternehmung macht das Bergsteigen populär.

Um die körperliche Verfasstheit dieser ersten Bergsteiger ist es nicht gut bestellt. Schon beim Aufstieg zum Mont Blanc lassen die Träger und Führer ihren Wein im Gepäck und trinken heimlich geschmolzenes Schneewasser. Den scharfen Beobachter Saussure macht das stutzig. Wenn seine Begleiter ihr Grundnahrungsmittel verschmähen, verheißt das nichts Gutes. Manchen ist übel, einigen schwindlig, das Atmen fällt schwer. Auf dem Gipfel stampft Saussure wütend im Schnee, anstatt sich am Gipfelglück erfreuen zu können, ist er nur erschöpft. Er sei sich auf dem Gipfel wie ein Feinschmecker vorgekommen ist, klagt er nach der Rückkehr, der ein herrliches Festmahl nicht genießen konnte. Sein Fazit: "Die Natur hat den Menschen nicht für die hohen Regionen geschaffen; die Kälte und die dünne Luft halten ihn von dort fern.“

Eine grobe Fehleinschätzung: Gerade die mit dem Bergsteigen verbundenen Mühen, das Schinden, die Plackerei machen zusammen mit dem Naturerlebnis diesen Sport attraktiv und lassen Bergwanderer wie Bergsteiger nach ihren Touren zum selben Schluss kommen, den Ernst Haeckel nach der Besteigung des "Pik von Teneriffa“ 1866 gezogen hat: "Man wird fragen, ob dieser Genuss im Verhältnis stand zu den ungewöhnlichen Beschwerden und Gefahren, mit denen wir ihn erkämpft hatten. Ich stehe nicht an, diese Frage unbedingt zu bejahen.“

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