Wandernde Grenzgänger

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Was Francesco Petrarca, Thomas Mann, Gregor Sieböck und Martin Heidegger gemeinsam haben: Sie gehen und gingen wandernd über Konventionen und die Zwänge des Lebens hinaus. Wegmarken.

Es mag ein wenig seltsam anmuten, eine Geschichte über das Gehen und Wandern mit einem Kernsatz der modernen westlichen Zivilisation einzuleiten: Im Leben sollte alles ein Ziel haben und einen Zweck verfolgen. Kaum ein anderer Satz beschreibt so prägnant, was den Erfolg der Leistungsgesellschaft ausmacht. Pessimistisch gesehen erläutert auch keiner treffender, warum es soweit mit uns gekommen ist. Tatsächlich gibt es nur wenige Tätigkeiten, die unserer Orientierung nach Zweck und Ziel entrinnen. Das Gehen gehört eindeutig dazu, nicht in seiner Ausformung als Nachgehen oder Hingehen, sondern als radikales Hinausgehen. Das klingt in der Theorie noch etwas verwirrend, ist aber praktisch ganz einfach. Nehmen wir zum Beispiel Gregor Sieböck. Er ist ein ehemaliger Manager der Weltbank. Nachdem er seinen Job an den Nagel gehängt hat, hat er auch gleich mit dem Rest des zivilisatorischen Strebens Schluss gemacht und ist existenziell abgebogen: Seit 2003 ist er zu Fuß durch die Welt unterwegs - als Weltenwanderer.

Grenzgänge über Körper und Geist

Das kann ja ein jeder, ist man leicht versucht zu sagen. Aber Gregor Sieböck macht das anders. Er geht ohne Kompass, Uhr oder Landkarte - und ohne jedes bestimmte Ziel. "Das Ziel bringt dich davon ab, den Weg zu genießen“, sagt er und erzählt von Schönheiten, die andere gar nicht bemerken, vom Plätschern der Bäche in Patagonien und von der Freude, ohne Rücksicht auf Zeit und Plan einfach auf einer Wiese zu liegen, nachzudenken oder einfach nur zu schauen.

Wer lange geht, geht über sich hinaus, heißt es. Doch das muss nicht nur mit der Abkehr von gesellschaftlichen Zwängen zu tun haben, wie in Sieböcks Fall. Wandern kann auch mit der Überwindung physischer und psychischer Grenzen zu tun haben. Eine solche Grenzüberschreitung erfuhr auch der Dichter Francesco Petrarca am 26. April 1336, als er den Mont Ventoux bestieg (siehe Essay S. 21) und dabei im Aufstieg entkräftet niedersank. "Ich schwang mich auf Gedankenflügeln vom Körperlichen zum Unkörperlichen hinüber und wies mich selbst zurecht: Was du heute bei der Besteigung erfahren hast müssen, wisse, genau das tritt an dich und an viele heran, die da Zutritt suchen zum seligen Leben. Es liegt auf einem hohen Gipfel und nur ein schmaler Pfad führt zu ihm empor. Von Tugend zu Tugend muss man weiterschreiten...“ Diese Idee gibt Petrarca neue Kraft: "Es ist nicht zu glauben, wie sehr diese Überlegung Geist und Körper aufrichteten.“

Schillernder noch als bei Petrarca sind die Visionen von Hans Castorp in Thomas Manns "Zauberberg“. Castorp wird bei einer Schneewanderung von einem Sturm überrascht, geht im weglosen Gebirge irre und fällt am Ende seiner Kräfte in einen Traum von sanften Sonnenmenschen, die beherrscht werden von menschenfressenden grauen Hexen im Tempel des Todes.

Wie Petrarca gewinnt Castorp durch seinen Gedankenflug Gewissheit: "Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über mein Gedanken. Der Tod ist eine große Macht. Er trägt die Würdenkrause des Gewesenen. Die Liebe steht dem Tod entgegen, nur sie, nicht die Vernunft ist stärker als er. Nur sie gibt gütige Gedanken. Auch Form ist nur aus Liebe und Güte Form und Gesittung schönen Menschenstaats - in stillem Hinblick auf das Blutmahl. Hell will ich mich erinnern, dass die Treue zum Tode und zum Gewesenen nur Bosheit und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Regieren.“

Heilige und unheilige Pilger

Der Wunsch nach einer transzendenten Erfahrung ist auch ein zentraler Teil religiöser Wanderschaften. Die erste biblische Pilgerschaft des Propheten Elija wird von Engeln befohlen und dauert vierzig Tage und Nächte und endet mit göttlichem Rat für den Verzweifelten (über moderne Pilger, siehe auch Kasten unten).

Allerdings standen Wallfahrten schon in frühchristlicher Zeit im Verruf, statt heiliger Visionen moralische Grenzgänge zu befördern. Um 400 rät der heilige Hieronymus angesichts der Prostitution in den Pilgerorten den Gläubigen zu Hause zu bleiben: "Von Jerusalem wie von Britannien aus steht euch der Himmel gleichermaßen offen. Denn das Reich Gottes ist inwändig in euch.“

Die fromme Anleitung scheint nicht wirklich gefruchtet zu haben: "Welche viel Wallfahrten thun, die werden selten besser“, schimpft Thomas von Kempen in seiner "Nachfolge Christi“ um 1420. Tatsächlich haben sich aus dieser Zeit Redewendungen und Schimpfworte erhalten, welche auf die Zustände hindeuten: "Du abgetriwwener Wallfahrtsbankert.“ Auch Geoffrey Chaucers Wallfahrtsepos "The Canterbury Tales“ ist gespickt mit den erotischen Anwandlungen der Reisenden. An einer Stelle heißt es: "Wer sich ein Haus zu baun aus Weiden denkt, auf blindem Pferd durch losen Acker sprengt, erlaubt, dass sich sein Weib zum Pilgern drängt, verdient dass man ihn an den Galgen hängt.“ Etwas humorvoller geht im 19. Jahrhundert Wilhelm Busch mit seiner pilgernden frommen Helene um: "Aus der Seele tiefstem Grunde haucht sich warm und innig an Pilgerin und Pilgersmann.“

Die Rückbesinnung

Ausgerechnet in Buschs 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Eisenbahn sind es Philosophen und Intellektuelle, die das Gehen wiederentdecken - und zwar als Gegenbewegung zur Welt der Eisenbahn, die mit ihrer neue Dimension der Geschwindigkeit die Wahrnehmungsmuster auf den Kopf stellt. Der passionierte Wanderer Johann Gottfried Seume (Spaziergang nach Syrakus) setzt da den Wahrspruch für sich und seine romantischen Gefährten: "Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ Honoré de Balzac versucht gar eine "Theorie des Gehens“ zu entwickeln, die in einer Sexual-Typenpsychologie gipfelt. Demnach sind Frauen, die "eckig“ gehen tugendsam. Hingegen: "Alle Frauen, die in ihrem Leben das gemacht haben, was man Fehler nennt, zeichnen sich durch Rundheit ihrer Bewegungen aus.“ Balzac ist übrigens nach eigenen Angaben an seiner Theorie des Gehens gescheitert.

Auf Heideggers Feldweg

Vielleicht sollte man auch besser Philosophen zu Rate ziehen. Martin Heidegger hat seinen Gängen über immer den selben Feldweg eine Betrachtung gewidmet, an deren Ende der Weg zum Sinnbild des göttlichen Wirkens wird. "Das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen. Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spendet Welt. Im Unausgesprochenen ihrer Sprache ist, wie der alte Lese- und Lebemeister Eckhardt sagt, Gott erst Gott. Der Mensch versucht vergeblich durch sein Planen den Erdball in eine Ordnung zu bringen, wenn er nicht dem Zuspruch des Feldweges eingeordnet ist.“

So tiefschürfende Gedanken zu einem Spaziergang passieren natürlich nicht jedem. Vielleicht bringt Heidegger damit aber ein Grundgefühl zum Ausdruck, das Wanderer wie Georg Sieböck unausgesprochen begleitet, und alle, die den Weg - frei nach dem abgegriffenen konfuzianischen Spruch - als Ziel sehen wollen. Theodor Storm dürfte einer von ihnen gewesen sein: "Über die Heide hallet mein Schritt, dumpf aus der Erde wandert es mit.“

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