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Was man gewinnt, wenn man wieder lernt, zu Fuß unterwegs zu sein.

Was ist eigentlich Gehen? Eine Art der Fortbewegung, werden Sie jetzt sagen. Und zwar eine recht altmodische, die sich nur für kurze Wege empfiehlt: den Gang zum Bäcker etwa oder zur Post. Früher war das anders. Bis vor kurzem blieb den meisten Menschen, wenn sie irgendwohin gelangen wollten, nichts anderes übrig, als ihre Füße zu benutzen. Entfernung spielte keine Rolle. Amerika wurde von Fußgehern entdeckt, vor etwa 11.000 Jahren, als nach der letzten Eiszeit die Beringstraße für eine Weile trocken lag. Und im 13. Jahrhundert gingen Bettelmönche wie Johannes von Piano Carpini und Wilhelm von Rubruk von Rom bis nach Karakorum, um den Mongolen-Khan zu missionieren.

Weder die ersten Entdecker Amerikas noch die wandernden Mönche waren Super-Athleten. Jeder halbwegs gesunde Mensch, damals wie heute, könnte es ihnen nachtun. Sein Körper ist nämlich wie geschaffen zum Gehen. Bis vor wenigen Generationen war es die Hauptbeschäftigung der Menschen, egal ob sie sich als Jäger oder Sammler, Bauer oder Hirte, Händler, Krieger, Bote oder Pilger durchs Leben schlugen. Dann wurden Bürostuhl und Autositz erfunden. Seither geht es mit dem Gehen bergab.

Wie das Gehen verschwand

Seither konkurrieren Schusters Rappen mit anderen Verkehrsmitteln, die ihnen längst den Rang abgelaufen haben. Versuchen Sie nur einmal, zu Fuß in die nächste Stadt zu gehen. Abgesehen davon, dass Ihnen das zu lange dauern würde, werden Sie bald merken, dass die Verkehrsplaner an Sie gar nicht gedacht haben. Der kürzeste Weg zu Ihrem Ziel ist den Autos reserviert, und wenn Sie nicht auf einer Landstraße Leib und Leben riskieren wollen, werden Sie einige Umwege und Umstände in Kauf nehmen müssen.

Weil es heute schnellere und bequemere Methoden gibt, um von A nach B zu kommen, ist Gehen als Mittel der Fortbewegung aus der Mode gekommen. Dafür erfreut es sich als Freizeitbeschäftigung neuer Beliebtheit. Wandern ist Umfragen zufolge die beliebteste heimische Sportart. Doch obwohl das Gehen als Wandern im Trend liegt, haftet ihm ein ideologischer haut goût an. Zwar ist der Wanderer unserer Tage kein "Taugenichts", kein romantisches Gegenbild des Homo oeconomicus, sondern meistens ein gut situierter Mittelschichtsbürger, der sich gern in teure High-Tech-Gewänder hüllt. Dennoch hat sein Tun kompensatorischen Charakter - im Sinne der Kompensationstheorie von Joachim Ritter.

Dieser Theorie zufolge braucht die Industriegesellschaft scheinbar unnötige Dinge wie zum Beispiel Kunst oder Geisteswissenschaften, um die Rationalisierung und Entzauberung der Welt zu kompensieren. Ein gleiches tut der gestresste Büromensch, wenn er beim zweckfreien Wandern in der Natur Ausgleich zum beruflichen Alltag sucht. Als Freizeitsport ist das Gehen mithin Teil der modernen Gesellschaft, aber ein rückwärts gewandter Teil, der die Wirkungen der Moderne mildern soll. Eine Kompensation eben, eine gesunde Form des Eskapismus.

Gehen als Ausgleich

Damit könnte die eingangs gestellte Frage beantwortet sein. Gehen wäre ein altmodisches Mittel der Fortbewegung und eine Freizeitbeschäftigung, die gewisse Nachteile der Moderne kompensiert. Nichts weiter. Doch ich meine, dass im Gehen mehr steckt als ein Retro-Trend zur Entschleunigung. Gehen ist das Gegenteil von altmodisch und eskapistisch. Es ist ein Medium der Erkenntnis, ein Mittel der Aufklärung. Gehen reimt sich auf Sehen.

Einer viel diskutierten anthropologischen Theorie zufolge bewährte sich der aufrechte Gang vor allem deshalb, weil der Urmensch, der erhobenen Hauptes auf zwei Beinen ging, weiter sehen und potenzielle Feinde eher erkennen konnte. Zugleich wurden seine Hände frei, und sein Gleichgewicht war gefordert, was seine Hirnentwicklung förderte.

Das ahnten bereits die Philosophen der Aufklärung. Für Herder war der aufrechte Gang ein Definitionsmerkmal des Menschen, und Kant - der sich auch Gedanken machte, wie man Kindern am besten das Gehen beibringen solle - hielt die zweifüßige Stellung für die Entwicklung der Vernunft am geschicktesten. Wie viele Philosophen vor und nach ihm schätzte der große Erkenntnistheoretiker Kant seinen täglichen Spaziergang. Die Schüler des Aristoteles benannten sich sogar nach ihrer Wandelhalle, dem Peripatos, wo sie beim Philosophieren auf und ab zu schlendern pflegten. Offenbar empfanden die Peripatetiker diese Bewegung als anregend und der Erkenntnis förderlich. Viele Dichter teilten übrigens diese Meinung. Siehe Hölderlin, Robert Walser, Thomas Bernhard und andere.

Gehen, um zu sehen

Das Gehen ist aber auch in einem viel einfacheren Sinne ein Instrument der Erkenntnis. In dem Sinn nämlich, dass man gehen muss, um etwas von der Welt zu sehen. Die Mönche des 13. Jahrhunderts hatten zwar keinen Erfolg mit der Mission des Khans. Dafür erfuhren die Europäer aus ihren Berichten erstmals etwas über den fernen Osten, Information anstelle der Legenden, die bis dato kursiert hatten.

Schön und gut, werden Sie jetzt sagen, aber muss man dafür heute noch zu Fuß gehen? Wozu gibt es Fernsehen und Internet? Zur Zeit des Johann Gottfried Seume gab es zwar weder das eine noch das andere. Es gab aber Kutschen. Dennoch zog Seume es vor, im Winter 1801/02 zu Fuß von Leipzig nach Sizilien zu gehen und wieder zurück. (Er kam dabei übrigens auch durch Wien und hatte dort ein lustiges Erlebnis mit einem Grenzbeamten.) Sein Spaziergang nach Syrakus ist eines der schönsten Reisebücher der Weltliteratur. Seume war kein Dichterfürst. Er gehörte eher zum akademischen Prekariat, wie man heute sagen würde. Aber er hatte einen genauen Blick für die soziale und politische Wirklichkeit Italiens, die er als Fußgeher hautnah erlebte. Seume ging zu Fuß, um zu sehen. Er war ein Ferngeher und Fußseher. Seume fand:

Wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht: man sehe sich nur um! So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll: man thut nothwendig zu viel, oder zu wenig.

Gehen: Welt auf Augenhöhe

Wer geht, begegnet der Welt und den Menschen auf Augenhöhe. Er ist ansprechbar, ungewappnet und offen, Erfahrungen zu machen. Bei Seume scheint fast eine Ethik des Gehens auf. Er war der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.

Es lohnt sich auch heute, ab und zu Wege zu Fuß zu machen, die man sonst mit dem Auto zurücklegt. Dann erkennt man zum Beispiel, wie hässlich das ist, was wir an unseren Stadträndern so bauen. Es ist so hässlich, dass man es nur im schnellen Vorbeifahren erträgt. Doch mit der Zeit entdeckt man vielleicht, dass zwischen Gewerbezonen und Werbetafeln Blumen blühen und Vögel nisten. Und man begegnet womöglich Menschen, die berührende Geschichten erzählen. Schritt für Schritt öffnet sich dem Gehenden eine neue Welt.

Erkenntnisse beim Gehen

Nach Seume kamen die Romantiker, die Tiecks und Eichendorffs. Sie gingen ebenfalls viel, aber sie interessierten sich weniger für ihre Umwelt als für sich selbst, und das auch nicht unbedingt in der Absicht, sich selbst zu erkennen.

Doch Seume hat Nachfolger gehabt. Michael Holzach etwa. Der Journalist wanderte Anfang der 1980er Jahre ohne Geld von Hamburg nach München und zurück. Deutschland umsonst ist das eindringliche Porträt eines Wohlstandslandes zu jener Zeit, als die sozialliberale Koalition zu Ende ging und Thatcher und Reagan ihre Schatten schon auf den Kontinent warfen.

Ein zweiter Seume verdient Wolfgang Büscher genannt zu werden. Büscher ging im Sommer 2001 von Berlin nach Moskau, auf dem Weg, den zu Seumes Lebzeiten Napoleons Armee und 1941 die Heeresgruppe Mitte nahm. Er aß in Kolchosenkantinen, besuchte Partisanenfriedhöfe und er ging: durch Wald, Steppe, Dörfer, über Chausseen, Brücken, Grenzen. Büscher hätte den Flieger nehmen können oder den Zug. Aber dann hätte er nicht den Osten des Kontinents für seine Leser neu entdeckt.

Der geheime Grund, warum Gehen in so außerordentlichem Maß befähigt, das Andere und den Anderen zu erkennen, liegt wohl darin, dass der Gehende mit jedem Meter, den er sich von seinem Ausgangspunkt entfernt, selbst zum Fremden wird. Das Gefühl, fremd zu sein, ist in Europa rar geworden, sogar in den großen Städten. Aber wer zu Fuß geht, braucht gar nicht weit zu gehen, um es zu erleben. Er muss nur bereit sein, den Weg in seiner ganzen Länge zu gehen. Und zu schauen. Er wird nicht aufhören zu staunen.

Christian Jostmann ist im Spätsommer 2004 zu Fuß von München nach Rom gegangen. In seinem Buch "Nach Rom zu Fuß. Geschichte einer Pilgerreise", das im Februar im Verlag C. H. Beck erscheint (gebunden, 224 Seiten, mit SW-Abbildungen und Karten, 19,50 Euro), erzählt er von Begegnungen mit Geschichte und Gegenwart Italiens, wie sie nur ein Fußgeher erlebt.

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