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SEHNSUCHT NACH DER WEISHEIT

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Die Bibel ist kein Buch, kein Instrument, kein begrenztes Objekt, mit dem wir so oder anders oder gar nicht umgehen: nein, sie ist konzentrierter Ausdruck einer Wirklichkeit, die uns unablässig ruft, jeden von uns in besonderer und unverwechselbarer Weise.

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Die Bibel ist kein Buch, kein Instrument, kein begrenztes Objekt, mit dem wir so oder anders oder gar nicht umgehen: nein, sie ist konzentrierter Ausdruck einer Wirklichkeit, die uns unablässig ruft, jeden von uns in besonderer und unverwechselbarer Weise.

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Sie ist mir noch gegenwärtig - jene Zeit des ersten Erwachens. Meine große Jugendliebe trug nicht mehr, und mitten in der Phase der Ablösung machte mich ein Freund mit Hermann Hesse bekannt: Ich las - besser gesagt: ich fraß - damals Klein und Wagner, die Morgenlandfahrt, Sidd-hartha, Demian, den Steppenwolf. Und ich erwachte. Ich erwachte zur Wirklichkeit des Geistes und empfand es auch so. Hesses Fragen waren ganz meine Fragen, er riß mich heraus aus der Unbewußtheit des Gymnasiasten, heraus aus dem Selbstverständlichen und ließ mich ahnen, daß es noch etwas anderes geben mußte als Konsum und Leistung, für das zu leben lohnte. Hesse brachte mich in einen tiefen Gegensatz zur Welt oder vielmehr: er half mir, das in mir zu entdecken, was im Gegensatz stand zum Sich-Treiben-Lassen im Oberflächengeist der Zeit.

Ich glaube heute, jeder Weg zu sich selbst und jeder Weg zur Wirklichkeit Gottes beginnt damit, daß die Oberfläche unseres Lebens Risse bekommt, daß wir in die Nicht-Identität fallen und bereit sind, uns von der Abgründigkeit des Lebens inspirieren zu lassen. So begann ich, Germanistik, Philosophie und Theologie zu studieren. Besonders die „Philo-Sophie" war es, die mich anzog. In ihr konnte ich ein Stück neuer Identität finden.

Als „Freund der Weisheit" empfand ich mich, als Suchender, als Wanderer zwischen den Welten. Ja, Weisheit war es, was ich suchte - aber das Studium selbst ließ mich unbefriedigt. Die wissenschaftliche Distanz stieß mich ab; ich war zu sehr existentiell getroffen. Alles, was ich hörte und las, bereicherte zwar den Intellekt, aber eine andere Dimension in mir blieb unberührt, unentwik-kelt, ungestillt und hungrig. Heute weiß ich, daß es das Herz war, das leer blieb. Denn im Grunde suchte ich nicht Wissen um Sinn sondern lebendige Sinnerfahrung. Die Weisheit zog mich eben an; sie entfaltete ihre Dynamik. An einem bestimmten Punkt sog sie so stark, daß ich alles verließ und mich auf den Weg in ein anderes Land machte.

Ich mußte leibhaftig auf den Weg gebracht werden.

Wenn das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten unmittelbar das Gelobte Land angesteuert hätte, wäre es vermutlich bereits nach einigen Wochen, höchstens Monaten angekommen. Statt dessen „irrte" es 40

Jahre in der Wüste umher. Es mußte reif werden für Kanaan.

Die Suche nach Weisheit, nach einer anderen Art von Glück als dem, nach dem ich die Mehrzahl der Menschen streben sah, führte auch mich nach meinem „Auszug" zunächst einmal in die Irre. Wenigstens schien es mir später gelegentlich so. Vielleicht ist die Erfahrung der Irre aber auch ein wichtiges Mittel, um die Sehnsucht nach Weisheit und Sinn zu steigern.

Erst an dem Punkt, an dem der Lebensentwurf des verlorenen Sohnes total gescheitert ist, hat er die Kraft zur Umkehr. Jedenfalls kam etwas im Inneren in Bewegung. Die Seele, die innere Welt trat langsam als etwas in mein Bewußtsein, das der Aufmerksamkeit, der Pflege, der Heilung bedurfte. Ineins damit trat die Bibel in mein Leben.

In der Theologie hatten mich Jahre vorher vielerlei Fragen beschäftigt, aber die Bibel war ein Buch mit Sieben Siegeln geblieben. Freilich: ich hatte sie für „veraltet" erklärt, aber war es nicht auch zu einem Gutteil mein Scheitern an ihr gewesen, das mich aus dem Studium hinausgetrieben und auf den Weg gebracht hatte? Jetzt - nach Jahren der Irre - mitten in der Verzweiflung an mir selbst griff ich plötzlich zur Bibel. Wie ein Orakel befragte ich sie, wenn es mir schlecht ging: „Herr, sag mir ein Wort!"

Und die Bibel, Gottes Wort, begann tatsächlich zu sprechen. Ich fand mich wieder in ihr. Nicht als Sieger zwar, sondern als verirrtes Schaf, als Mensch auf dem Holzweg. Sie entdeckte mir meine Fehlhaltungen -bestürzend, beängstigend: wird Gott mich noch annehmen? -, sie spendete aber auch Trost und Ermutigung. Oft genug löste sie, was hart geworden war, zusammen mit anderen Helfern in befreiende Tränen auf.

Aber das Wichtigste war: es entwickelte sich langsam ein tiefes Bedürfnis, ein Kind Gottes zu werden.

Äußerlich studierte ich derweilen wieder Philosophie, und Martin Buber - meinem zweiten großen Lehrmeister - gelang es, mich auch intellektuell näher an die Bibel und, in seinen chassidischen Schriften, an die Mystik heranzuführen.

Zu Beginn des zweiten Kapitels des Kolosserbriefs spricht Paulus vom „Geheimnis Gottes, das Christus ist". Und er fährt fort: „In Ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis." (Kol 2,3) Paulus spricht von der heimlichen Weisheit der christlichen Mystik (wie sie später die Wüstenväter, Meister Eckehart, Johannes vom Kreuz und Teresa von Avila, Gerhard Tersteegen und andere weiter entfaltet haben).

Wenn ich mich nach Weisheit sehne, so ist es mehr und mehr eine Sehnsucht nach Anteilhabe am Geheimnis Gottes. Ich ahne und fühle sogar bisweilen, daß hinter Paulus' Worten eine schier ungeheure Möglichkeit unseres Menschseins verborgen ist, eine Möglichkeit, die wir erfahren können. Wenn wir sie erfahren, so erfüllt sie uns ganz und gar -sie macht uns „selig", wie die Alten es nannten. Ich kenne nichts Attraktiveres mehr, als die Gemeinschaft Gottes zu suchen und in sie hineinzuwachsen.

Die Nähe zu Ihm bedeutet für die menschliche Seele: Offenbar kann sich in unserem Inneren ein Verwandlungsprozeß ereignen, der schrittweise die Verengungen, die uns unsere Lebensgeschichte zugefügt hat, aufbricht. Ein Prozeß, der uns öffnet, weich und lebendig werden läßt, gelassen und liebesfähig. Wir könnten auch sagen: wir finden unsere Mitte wieder. Die Tradition nannte das: Christus offenbart sich in uns. Erst . von dieser inneren Erneuerung her kann unser Wirken in der Welt fruchtbar werden. In diesem Sinne also spreche ich heute von der heimlichen Weisheit der Erfahrung Gottes im eigenen Herzen. Sie ist die Weisheit aller Weisheit.

Die Bibel aber ist die zuverlässigste äußere Führerin auf dem Weg dorthin. Nur deshalb nannte die Tradition sie den „wahren Leib Christi". Der Autor ist evangelischer Theologe.

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