Gestalten aus zehn Jahrhunderten

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Vernunft erfasst alles Ibn Sina (Lat.: Avicenna), 980-1037 Solange nicht alle Besonderheiten des Pflanzlichen wie die ernährende, die wachsende und die fortpflanzende Kraft in der geringeren ersten Art vorhanden sind, schreitet die Natur mit ihr nicht weiter zu der zweiten edleren Art, wie sie die animalische Stufe darstellt. [...] Nun hat aber die Natur unter alledem, was geboren wird, ein vernünftiges Wesen hervorgebracht, und darum hat sie dieses notwendigerweise mit allen Kräften der Wahrnehmung vollständig ausgestattet, um dem die Verleihung der vernünftigen Kraft folgen zu lassen. Wenn also die vernünftige Art im Besitz aller Kräfte ist, welche die wahrnehmbaren Dinge erfassen, so erfasst folglich die vernünftige Art alle wahrnehmbaren Dinge, und darum gibt es nichts Wahrnehmbares außerhalb von dem, was das vernunftbegabte Wesen erfasst.

Aus einem Brief Ibn Sinas (um 1000) , des persisch-islamischen Arztes und Philosophen, der Aristoteles bekannt machte; Thomas von Aquin fußt auf den Aristoteles-Kenntnissen von Ibn Sina..

Die Gabe der Schau Hildegard von Bingen, 1098-1179 Von meiner Kindheit an, als meine Gebeine, Nerven und Adern noch nicht erstarkt waren, erfreue ich mich der Gabe dieser Schau in meiner Seele bis zur gegenwärtigen Stunde, da ich doch schon mehr als siebzig Jahre alt bin. [...] Ich sehe aber diese Dinge nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren, auch nehme ich sie nicht mit den Gedanken meines Herzens wahr. [...] Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel, viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite vermag ich an ihm zu erkennen. Es wird mir als der "Schatten des lebendigen Lichtes" bezeichnet. Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf.

Hildegard von Bingen, Mystikerin und "Prophetin", 1175in einem Brief an ihren Bewunderer und Sekretär Wibert von Gembloux.

Verehrung im Osten Shinran Shonin, 1173-1262 Man nennt Ihn auch Unermessliches Licht und Wahre Erleuchtung sowie Grenzenloses Licht und Gleiche Erleuchtung. Weiter wird Er als Ungehindertes Licht und Unbegreiflicher sowie als Unvergleichliches Licht und Endgültige Zuflucht bezeichnet. Man bezeichnet Ihn weiter als Majestätisch Strahlendes Licht undGroßen Heiligen sowie als Licht der Freude und Großer Tröster und bezeichnet Ihn als Licht der Weisheit. Weiter wird Er Unaufhörliches, Unbegreifbares und Unbeschreibliches Licht genannt. Man nennt Ihn auch Sonne und Mond Überstrahlendes Licht. - Einzigartiger, Große Versammlung, Mitleids-Ozean, Verehrungswürdigster, Gleichmachende Kraft, Große Geisteskraft, Unbeschreiblicher Buddha ...

Aus den 46 Beinamen Buddhas, die der Begründer des japanischen Jodo-Shin-Buddhismus, Shinran, in den "Hymnen über das Reine Land" (vollendet 1248) nennt. Shinran ist einer der großen Reformatoren des japanischen Buddhismus im Mittelalter.

Der Mensch ist frei Dante Alighieri, 1265-1321 Ihr Lebenden hängt jede Schuld und Ursach / dem Himmel an, als ob er alle Dinge / aus sich bewegte mit Notwendigkeit./Wenn es so wäre, würde aufgehoben / die freie Wahl und die Gerechtigkeit, / für Gutes Heil, für Böses Weh zu ernten. / Zwar bringt der Himmel eure Regungen / - ich sag nicht alle - auf; und wären's alle, / ist euch doch Licht für Gutes und für Böses / und freies Wollen zugeteilt. Erliegt es / auch in den ersten Kämpfen mit dem Himmel, / am Ende siegt es dennoch über alles, / wenn es sich nährt von kräftigender Einsicht. / Höherer Macht und besserer Natur / seid ihr als Freie unterworfen, diese / schuf euern Geist, den keine Sterne zwingen. / Wenn heute drum die Welt vom Wege abirrt, / so liegt der Grund in euch, dort späht ihn aus, / und davon will ich dir die Wahrheit melden.

Aus dem "Purgatorio" dem zweiten der drei Teile der "Göttlichen Komödie", die Dante zwischen 1307 und 1310 verfasste.

Massenmedium Bibel Johannes Gutenberg, Um 1400-1468 Was man mir über jenen bewundernswerten Mann, der in Frankfurt gesehen wurde, mitgeteilt hat, ist sicherlich wahr. Vollständige Bibeln habe ich nicht gesehen, vielmehr einige Quinternionen mit verschiedenen Büchern (der Heiligen Schrift) in höchst sauberer und korrekter Schrift ausgeführt, nirgendwo fehlerhaft; Euer Gnaden würden sie mühelos und ohne Brille lesen können. Von mehreren Gewährsmännern erfuhr ich, dass 158 Bände fertig gestellt seien. [...] Ich werde versuchen, [...] noch eine käufliche Bibel hierher schaffen zu lassen, und sie für dich bezahlen. Ich fürchte aber, es wird nicht gehen, sowohl wegen der langen Wegstrecke als auch, weil es, wie man berichtet, noch vor der Vollendung der Bände schon (für sie) bereitstehende Käufer gegeben habe.

Brief von Enea Silvio Piccolomini, (später: Papst Pius II.), 1455 aus Wiener Neustadt, wo er am Hof Friedrichs III. tätig war, an Kardinal Carvajal über die von Gutenberg gedruckten Bibeln. - "Quinternione": Lage aus fünf Bogen.

Schwelle zur Macht Elisabeth I. Von England, 1533-1603 Mein geliebtes Volk! Uns rieten einige [...], wir sollten uns sehr in Acht nehmen, wenn wir uns unter bewaffnete Mengen begeben. Aber ich versichere euch, so lange ich lebe, kenne ich kein Misstrauen meinem geliebten und treuen Volk gegenüber. [...] Und deshalb bin ich auch jetzt zu euch gekommen, weil ich entschlossen bin, inmitten der Hitze der Schlacht mit euch allen zu leben oder zu sterben [...] Ich weiß, ich habe nur den Körper einer schwachen Frau, aber ich habe das Herz und den Mut eines Königs, und zwar eines Königs von England! Ich spotte der Vorstellung, dass [...] ein Fürst von Europa es wagen sollte, die Grenzen meines Reiches zu überschreiten. Ehe solche Schande über mein Land kommt, will ich lieber selbst die Waffen ergreifen und euer General sein [...] Darauf gebe ich euch mein Königswort.

Aus der Ansprache Elisabeths I. im August 1588 bei einer Truppeninspektion nach dem Sieg über die spanische Armada, als Angst vor einer Invasion des Herzogs von Parma herrschte.

Aus der Neuen Welt Pocahontas, 1597-1617 Pocahontas wurde 1597 in Häuptling Powhatans Dorf Werowocomoco geboren. Wir wissen, dass Pocahontas ungefähr zehn Jahre alt war, als sie ihr Volk daran hinderte, den englischen Captain John Smith zu töten. [...] Aus vielen Briefen und Tagebüchern erfahren wir [...] über Pocahontas' Beziehung zu John Rolfe, ihre Heirat und die Geburt ihres Sohnes Thomas. - Selbst über Pocahontas' Aufenthalt in England wird uns viel berichtet - über die Bälle, zu denen sie eingeladen war, und die Häuser, in denen sie sich als Gast aufhielt. Pocahontas traf den Dichter und Dramatiker Ben Jonson und den Forscher Walter Raleigh. Und wir wissen, dass sie großen Eindruck auf das englische Königshaus machte. Wir kennen ihr "großes Glaubensbekenntnis", das sie auf ihrem Totenbett in der Stadt Gravesend in England sprach.

Die US-Autorin Mari Hanes über die indianische Häuptlingstochter Pocahontas, die einen Weißen heiratete und 1616 nach England kam, wo sie ein Jahr später im Alter von 20 Jahren starb.

Die Kunst der Fuge Johann Sebastian Bach, 1685-1750 Des Abends, gegen die Zeit, da die gewöhnliche Cammer-Music in den Königl. Apartements anzugehen pflegt, ward Sr. Majest. berichtet, daß der Capellmeister Bach in Potsdamm angelanget sey, und daß er sich jetzo in Dero Vor Cammer aufhalte [...] Höchstdieselben ertheilten sogleich Befehl, ihn herein kommen zu lassen, und giengen bey dessen Eintritt an das sogenannte Forte und Piano; geruheten auch, ohne einige Vorbereitung in eigner höchster Person dem Capellmeister Bach ein Thema vorzuspielen, welches er in einer Fuga ausführen solte. Es geschahe dieses von gemeldetem Capellmeister so glücklich, daß nicht nur Se. Majest. Dero allergnädigstes Wohlgefallen darüber zu bezeigen beliebten, sondern auch die sämtlichen Anwesenden in Verwunderung gesetzt wurden.

Aus einem Bericht der "Berlinischen Nachrichten" vom 11. Mai 1747 über die Improvisationskünste von Johann Sebastian Bach.

Vorboten des Unheils Rahel Varnhagen, 1771-1833 Ich bin gränzenlos traurig [...] Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebenen thun. Behalten wollen sie sie; aber zum Peinigen u Verachten; zum Judenmauschel schimpfen; [...] zum Fußstoß, und Treppenrunterwerfen. Die Gesinnung ist's die verwerffliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule die mich so tief kränkt, bis zum herzerkalten? Schrek. Ich kenne mein Land! Leider. Eine unseelige Cassandra! seit 3 Jahren sag' ich: die Juden werden gestürmt werden ... Dies ist der deutsche Empöhrungs Muth. Und wie so? Weil es das gesitteste; gutmüthigste, friedliebendste, Obrigkeitsehrenste Volk ist. was es zu fordern hätte, weiß es nicht: nur Unterrichtete unter diesem Volk möchten es ihm lehren: unter diesen sind aber viele Ungebildeten, mit rohen Herzen; wo auch Raum für Neid ist, gegen eine große Zahl solcher Juden.

Rachel Varnhagen, bedeutende deutsche Intellektuelle, Jüdin (seit 1814 getauft),1819 in einem Brief über Exzesse gegen Juden.

Nicht endender Weg Nelson Mandela, * 1918 In diesen langen und einsamen Jahren wurde der Hunger nach Freiheit für mein eigenes Volk zum Hunger nach Freiheit für alle Menschen - schwarz und weiß. Wenn ich etwas erkannt habe, dann das: Der Unterdrücker muss genauso befreit werden wie der Unterdrückte. Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses, er ist eingesperrt zwischen Vorurteilen und Engherzigkeit. Ich kann nicht wirklich frei sein, wenn ich jemand anderen die Freiheit nehme, genauso wie ich nicht frei bin, wenn man mir die Freiheit nimmt. [...] Seit ich aus dem Gefängnis kam, ist es meine Mission, sowohl die Unterdrückten, als auch die Unterdrücker zu befreien. Einige sagen, das sei jetzt erreicht worden. Ich weiß aber, dass das nicht stimmt. Wahr ist, dass wir noch nicht frei sind [...] Denn frei zu sein ist mehr als das Abwerfen der Ketten ...

Nelson Rolihlahla Mandela im Resümee seiner Autobiographie "Der lange Weg zur Freiheit", 1994.

Redaktionelle Gestaltung: Otto Friedrich

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