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TAGANROG

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(11. Fortsetzung und Schluß)

„Du stichst den Engel in dir“, antwortete sie leise; „ich kann dich nicht hindern; ich möchte es wenigstens nicht. Und doch verlangst du mehr, als ich vermag.“ — „Es wäre das größte Opfer deiner Liebe, daß du mithelfen würdest, die Welt um mein Geheinipis zu betrügen. Aber hinter dem Betrug ist Wahrheit wie das Licht hinter Wolken. Vor den Augen der Menschen kann ich nicht mehr rein werden, nicht einmal mehr vor meinen Brüdern. Wie, wenn ich es vor dir würde? Wenn ich dir die Stelle bezeichnen würde, wo meine gereinigte Seele wartet auf die deine? Laß mir diesen Vorsprung; daß wir uns wiederfinden! Bei deiner ganzen heiligen Liebe bitte ich dich darum.“ Die Wehmut einer großen Überwindung schimmerte in ihrem Blick: „Wie wenig geht es um mich, Alexander! Siehst du, ich bin dem Ende schon ganz nahe. Oft schlafe ich wunderbar tief, die ich doch früher nicht schlafen konnte; dann verwandelt sich dein Rußland in meine irdische Heimat, und in meiner Heimat höre ich wieder die heiligen Glocken deines Landes. Ich würde ein Jahr deiner Liebe, deiner Güte opfern; das ist wohl viel — aber doch nicht zu viel für das Erwartete. Ich ahne auch, daß es eine Art von Liebe gibt, die stärker sein darf als unser Abscheu vor der Lüge. Nach dieser Liebe will ich trachten. Wenn der Herr einkehren will in deine Seele, so wird alles gut.“ — „Es gibt viele heilige Männer in unserem Volke, die ganz im verborgenen leben. Einer unter ihnen wird mir helfen. Ich habe ein großes Vertrauen zu dieser verborgenen Kraft. Bete nur mit mir für Nikolai, daß er nicht in Versuchung falle; sie ist ihm so nah. Es ist sein furchtbarer Auftrag, mit dem Drachen zu kämpfen, der in Rußland groß geworden ist. Aber einmal muß doch ein Gläubiger und Reiner mächtig werden; wir wissen nicht, wie fern er noch ist. — Mit Diebitsch werde ich nicht mehr sprechen, er ist nicht zu fürchten; auch wenn er ahnt, was vorgeht, wird er , schweigen und sich auf denZimmer des Zaren. Die Unterredung mit dem Arzt, den der Fürst zu Alexander be- schieden hatte, nahm wenige Minuten in Anspruch. „Ich bitte Sie“, wandte sich Alexander an ihn, „zur gegebenen Zeit ein Dokument auszustellen, das der Fürst Wolkonsky von Ihnen fordern wird. Ich erwarte Ihr Versprechen, daß Sie das in jedem Falle tun werden; der Inhalt des Dokuments mag Sie befremden, aber er ist von. mir. bestimmt.“ — „Ich werde“, erwiderte Dr.' Wylie, ein etwas schwerfälliger Mann, dessen Züge ein eigentümliches düsteres Gepräge trugen, „Eure Majestät vielleicht um Gehör ?itten müssen, nachdem der. Fürst mir das Dokument vorgelegt hat.“. — „Nein", entgegnete Alexander, „das kann nicht geschehen. Wenn Sie das Blatt be- • kommen, so erinnern Sie sich bitte daran, daß Sie vor fünfundzwanzig Jahren eine Erklärting unterzeichneten über die Weise, auf die mein Vatyr gestorben ist. Dieses zweite Dokument ist eine Art sehr verspäteter Antwort auf das erste; schon darum muß es Ihre Unterschrift tragen.“ Nun ging ein Erschrecken über die Züge des Arztes; er verbeugte sich wortlos und ging-neuen Herrn einrichten, der mehr Tatkraft haben wird als ich. Ich bitte dich, rufe Wolkonsky; er wird dir beistehen. Auch seine Stimme hörte ich über mir in jener entsetzlichen Nacht, doch et hat längst den Weg der Sühne beschritten; nun wird er auch mir dazu helfen.“

Während Alexander sich mit Wolkonsky besprach, ersuchte Diebitsch die Zarin auf das dringendste, vor den Zaren gelassen zu werden. Die letzten Nachrichten aus Petersburg eien im höchsten Maße beunruhigend; infolge zu langen Zögerns komme man dem drohenden Aufstand vielleicht nicht mehr zuvor. Dieses Zögern könne daran schuld sein, daß sich das Gerücht vom Tode des Zaren verbreitet habe; unter den Eingeweihten begreife niemand, daß der Herrscher nicht handle; möglich sei es auch, daß der Verschwörer Murawiew, den der Zar in kaum begreiflicher Güte freigelassen habe, an der Verbreitung des Gerüchtes schuld sei. Alle nach Taganrog gerichteten Mahnungen und Warnungen seien "vergeblich gewesen … Die Zarin erschrak über die Nachricht von dem Gerücht; ungewohnt, solchen offenen Vorwürfen zu begegnen, stellte sie sich mit einer gewissen Scheu vor die Tür: „Ich darf Sie nicht einlassen; es ist sein heiliger Wille.“ — „Der Augenblick ist gekommen", erwiderte Diebitsch in mühsam beherrschter Erregung, „wo kein Wille mehr gebieten kann, nur noch die Notwendigkeit.“ — „Die Notwendigkeit“, erwiderte sie nun ruhig, „ist eingetreten; ich fürchte, daß jenes entsetzliche Gerücht sich bald bestätigen wird; Ich bitte Sie, dann Rußland und seinem neuen Herrn mit Ihrer ganzen Kraft zu dienen.“ Nun wich er zurück: „Ich ahnte es“, sagte er leise, „unser erhabener Herr hat sich schon lange von dieser Welt getrennt.“

Die Nacht war wieder gekommen, die dem trüben Tage nur für wenige Stunden Platz gemacht hatte; das Meer rauschte stärker herüber, und der Schrei vorüberwandernder Vögel verhieß Schnee. In tiefer Erschütterung verließ Wolkonsky das

Alexander hatte sich einige Stunden Einsamkeit ausbedungen. Er betete sehr 'lange vor einem Bilde des heiligen Alexander Newsky; dann nahm er Abschied von dem Bilde Sophiens. Er wollte durchaus nichts mit sich nehmen, das an sein bisheriges Leben erinnerte. Gegen Mitternacht erschien die Zarin mit dem schweren Pelzmantel Iljas, der für. seine hohe Gestalt ausreichte, wenn er auch zu weit für ihn war. Er hüllte sich hinein; dann umarmten sich die Gatten. Nun öffnete er die Tür, die über die flache Terrasse in den Garten führte; der Wind stürzte sich ins Zimmer und warf die Vorhänge empor und erschütterte- die Lampe. „Leise“, sagte der Zar, den Finger an die Lippen legend; „aber der. Wind ist gut, er verbirgt meine Tritte.“ Auf der Schwelle der Tür hielten sie sich lange umschlungen. „Noch einmal bitte ich dich,, bete für Nikolai. Vielleicht kann ich das Schicksal austragen und Gott nimmt meine Sühne an.“ Sie sah, an seine Schulter, gepreßt, in die Nacht hinaus, ohne sprechen zu können. Nun löste er ihre Arme. „Ich gehe dir entgegen", sagte er nur; darauF zog er den Mantel fest an sich und verbarg, sein Haupt unter der breiten Pelzmütze Iljas. Der Schimmer des Gemachs folgte war er im . Dunkel verschwunden.

Einige Zeit darauf wurde einem Sträfling, der in Rostow mit einer großen Zahl Verbannter verschifft werden sollte, ein sonderbares Glück zuteil. Ein, Unbekahnteryl der ihm an Gestalt und Aussehen einiger-' maßen glich, fragte ihn flüsternd, ob er frei werden wolle; dann möge er die Kleider mit ihm tauschen. Im Schutze eines- Schuppens nahm der Fremde die Kleider des Sträflings, um diesem seihen Pelzmantel überzuwerfen; dann beugte er sich unter die Scheltwor'e und Schläge der Aufseher, die die widerwillige Masse der' Gefangenem' über den Schiffsteg trieben. Während der Fahrt und auf dem langen Zug durch die Ebene liefen widersprechende Gerüchte um:' der Zar Alexander sei in Taganrog gestorben und seine Leiche werde nach Petersburg gebracht; Konstantin sei zum Zaren ausgerufen worden. Nein, hieß es gleich darauf, Nikolai habe den Thron bestiegen: in Petersburg hätten sich mehrere Regimenter für Konstantin erklärt, es sei zu einem großen Aufstand gekommen, aber Nikolai habe ihn unbarmherzig niederwerfon lassen. Nicht um Konstantin, sagte einer der Gefangenen leise, sei es den Aufständischen zu tun gewesen, sondern um eine Verfassung, um den Beginn einer ganz neuen, einer ganz anderen Zeit. „Möge Nikolai der rechte Kaiser sein", bemerkte ein Greis, der sich'mit verlöschender Kraft weiterschleppte. Da drängte sich ein Jüngling zwischen- sie unter dem Schutz der Schneewirbel, die unter dem tiefniederhängenden Himmel über die Steppe heranstrichen: „Nikolai?“ rief er. „Der dient dem Teufel wie alle Zaren.“ Und er begann das Lied von dem heiligen Zaren zu summen, der aus den Wäldern kommen, das Schiffsvolk aufrufen und die heilige Glocke in Moskau läuten werde. Einige summten das Lied mit, während dem fremden, hochgewachsenen Manne, der schweigend zwischen ihnen schritt, die Tränen aus den Augen stürzten und der Schnee die Schar der Wandernden immer dichter verhüllte.

Ende

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