Gratis

19451960198020002020

Wahn mit Ablaufdatum

19451960198020002020

Wahn mit Ablaufdatum

Werbung
Werbung
Werbung

Seit Mitte der neunziger Jahr werden in Europa Gratiszeitungen gegründet. Sie erhöhten damit die Verbreitung der Tagespresse. Doch die Geschäftsmodelle haben sich noch nicht gänzlich gerechnet. Den Kaufzeitungen fehlen Leser und Anzeigenerlöse.

Seit Mitte der neunziger Jahre tobt in Europas Hauptstädten, auch in Wien, die Schlacht der Verlagshäuser um zusätzliche Leser, geführt mit neuartigen Gratiszeitungen. Eine internationale Studie lässt das Ergebnis erwarten: Es wird keine wirklichen Sieger geben, Gratiszeitungen erzielen selten Gewinne, aber Kauf- und Qualitätszeitungen tragen den Schaden davon, weil sie Leser und Anzeigenerlöse verlieren.

In Stockholm nahm der große Krieg um die Pendler als Leser 1995 seinen Ausgang: Der Kampf wird mit den Mitteln der gratis verteilten Zeitungen geführt. Anfangs von den etablierten Medien belächelt, haben sich einige Gratiszeitungen behauptet. Nun steht eine ganze Branche vor der Frage: Was bringen Gratis-Titel? Um es mit dem Journalistik-Wissenschafter Michael Haller auszudrücken: Stimmt es, dass Gratiszeitungen junge Leute an das Zeitungslesen heranführen, letztlich also den Kaufzeitungen zuarbeiten? Oder ist es eher so, dass die Gratiszeitungen das Finanzierungsmodell der Kaufzeitungen ruinieren und zudem Leser binden, die für die Kaufzeitungen für immer verloren sind? Die Antwort ist eindeutig: „Inzwischen wissen wir: Die zweite Hypothese ist die zutreffende.“

Michael Haller, vor seiner Professur in Leipzig selbst Journalist (Spiegel, Zeit), hat diese These bei einem internationalen Fachkongress in Istanbul präsentiert und in einer Fachzeitschrift publiziert (Message 1/2009). Jetzt legte er mit einer internationalen Autorengruppe für die Stiftung Presse- Grosso in Deutschland die Studie „Gratis-Tageszeitungen in den Lesermärkten Westeuropas“ vor: Die Gratis-Tageszeitung sei ein „Übergangsmedium mit Ablaufdatum“, heißt es in den Schlussfolgerungen zu den wahrscheinlichen Trends. Ihre Funktion werde in die mobile Webnutzung wandern.

Unter der Rentabilitätsgrenze

Ausgehend von Skandinavien gründeten das schwedische Kinnevik-Konzern mit Metro und der norwegische Schibsted-Konzern mit 20 Minuten in Europas großen Städten teils gegen örtliche Konkurrenten Gratiszeitungen. Diese haben etwa in der Schweiz, in Österreich und in Frankreich mit einem Viertel teils beachtliche Anteile am Tageszeitungsmarkt erobert. In Dänemark, Spanien und Italien erreichen sie sogar rund die Hälfte des Tageszeitungsmarktes. Allerdings bewegen sich aber insgesamt „deutlich unter der Rentabilitätsgrenze“.

In zwei Ländern, Deutschland und England, wurde von etablierten Medienhäusern vorauseilend Gratis-Titel auf den Markt gebracht, um diesen zu verstopfen und die Invasion der Gratis-Titel zu vereiteln. Die Strategie ging auf, weder Kinnevik noch Schibsted konnten in Deutschland erfolgreich ihre Titel lancieren. Noch nie, so schreiben die Autoren in der Studie, habe Metro International eine Dividende ausgeschüttet. Im vorigen Jahr, noch vor der Wirtschaftskrise, war der Wert der Metro-Aktie auf 4,4 Schwedische Kronen gesunken, deren Ausgabewert in den Neunzigern bei 60 Kronen gelegen hatte.

Die negativen Folgen

Die Erhebungen zeigen, dass sich die Erfolge der ersten Generation der Gratiszeitung – etwa Metro in Schweden und 20 Minuten in der deutschen Schweiz – „quasi gegen die Branche“ gekehrt habe. Infolge der zusätzlich implementierten Konkurrenzprodukte schrumpfe das je Titel akquirierbare Werbevolumen.

Die Gratiszeitungen seien jedenfalls, mehr als ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung, noch „keine Erfolgsgeschichte“. Eine für einen Betriebsgewinn ausreichende Buchung durch Anzeigenkunden werde nur ausnahmesweise und nur von Pendlerzeitungen erreicht. Die Gratistitel hätten einen Wettbewerb ausgelöst, der sich zu einem „kostenintensiven Verdrängungs- und Vernichtungskampf radikalisiert hat“.

Die negativen Folgen davon blieben nicht aus: Bei den Anzeigenpreisen wurde rabattiert, die Produktionskosten mussten gesenkt werden. Dies führe, so die Studienautoren, meist zu einem Abbau von Personal in den Redaktionen und „mithin zu einem Schwund an journalistischen Eigenleistungen“. Damit verbunden erhöhe sich die Abdruckquote von Agenturstoff und PR-Material. Diese Veränderungen wiederum würden die Attraktivität des redaktionellen Angebotes vermindern, weiters die Nutzungsquoten, Reputation und folglich die Reichweite des Titels schmälern, bis dieser Gratistitel dann eingestellt werde.

Der Rückgang an Reichweite der Kaufzeitungen habe aber andere Ursachen als lediglich den Markteintritt von Gratiszeitungen. Insbesondere Personen im Alter von unter 30 Jahren, ganz besonders jene von unter 20 Jahren, würden sich, wie Untersuchungen in Deutschland zeigten, der Lektüre der Kaufzeitungen mehrheitlich verweigern. Allerdings bieten die Autoren auch für die Qualitäts- und Kauftitel Optionen an.

Die erste ihrer Forderungen gilt der „Mediensozialisation im Grundschulalter“: „Eine am Lehrstuhl für Journalistik der Universität Leipzig 2005 durchgeführte Studie ergab, dass die Mehrheit der jungen Erwachsenen, die eine mittlere Reife erworben haben, den funktionalen Unterschied zwischen einem Informationstext und einem Meinungsbeitrag nicht erkennen bzw. benennen konnten.“ Die zweite Forderung der Autoren betrifft die inhaltliche Qualität der Kaufzeitungen. Deren Angebot sei für ihre potenziellen Leser oft schwer verständlich oder irrelevant.

Eine gut gemachte Gratiszeitung (glaubwürdig, relevant, attraktiv) könnte gebildete Leser an die Kaufzeitungen weitergeben. Wenn der Gratistitel diese Kriterien nicht erfüllt, „gilt er als unnötig und beschädigt den Wert der gesamten Gattung Tagespresse“.

Gratis-Tageszeitungen in den Lesermärkten Westeuropas

Von Michel Haller

Nomos 2009

208 S., kart., E 48,–

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung