Österreichische Geschichte, weit gefasst

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Ein Band mit ausgewählten Texten von Gerald Stourzh gibt gute Einblicke in das Geschichts-, Menschen- und Weltbild des vor allem als Staatsvertragsexperte bekannten Historikers.

Zwei der bedeutendsten österreichischen Historiker haben in diesem Sommer Bücher vorgelegt, die in einem gewissen Sinn Bilanz über lange Wissenschafter-Karrieren legen. Im Frühsommer gab Fritz Fellner eine erneuerte und wesentlich erweiterte Edition der Tagebücher Josef Redlichs heraus, mit denen er in den späten 1950er Jahren einen Grundstein seiner Laufbahn gelegt hatte. Nun folgt Gerald Stourzh mit einer Sammlung wichtiger Aufsätze. Der Band fasst das, was Stourzh im Zusammenhang mit der österreichischen Geschichte wichtig ist, kompakt zusammen. "Der Umfang der österreichischen Geschichte“, so der Titel nicht nur des Buches sondern auch des ersten Beitrags, in dem vorweg die Frage nach der Begriffsdefinition eine Klärung erfährt. Österreichische Geschichte, das ist für Gerald Stourzh nicht nur die Geschichte des heutigen Österreich. Sie umfasst weit mehr, wurzelt im Erbe Altösterreichs und ist nicht subsumierbar unter die deutsche Geschichte, auch wenn sie parallel zu dieser 1938-45 weiter existiert hat.

"Ethnisierung“ der Politik

Die Beiträge befassen sich in ihrer Mehrheit mit Themen der österreichischen Rechts- und Verfassungsgeschichte zwischen 1848 und 1918. Es war der berühmte Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger mit seinen darin proklamierten gleichen Rechten aller "Volksstämme“ der Monarchie, der für Stourzh seit Jahrzehnten einen Ausgangspunkt seiner Untersuchungen zum Nationalitätenproblem der ausgehenden Habsburgermonarchie gebildet hat. So auch im vorliegenden Buch. Am prägnantesten geschieht dies im letzten Beitrag, der im Gegensatz zu den anderen erstmals publiziert wird. Stourzh zeichnet darin den Prozess der zunehmenden "Ethnisierung“ der österreichischen Politik vor dem Ersten Weltkrieg nach, nicht ohne auch auf die dadurch entstandenen Präjudizien im Hinblick auf den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts warnend hinzuweisen. Denn so begrüßenswert die nach der Jahrhundertwende erzielten nationalen Kompromisse waren, sie erfolgten um den Preis der zunehmenden "Befriedung durch Separation“. Nationale Autonomie, der Schutz vor Majorisierung, bedeutete auch strikte nationale Trennung und Zuordnung.

Anfangs war es noch das subjektive Recht jedes Staatsbürgers, seine "nationale Zugehörigkeit“ (ein Begriff, der in den 1880er Jahren Eingang in die Judikatur der Höchstgerichte fand) zu bestimmen - oder auch nicht - und diese nach Belieben zu wechseln, etwa aus Motiven des sozialen Prestiges oder des beruflichen Fortkommens. Stourzh zeigt "die Bedeutung des für die vertikale Mobilität in der Habsburgermonarchie so wesentlichen Erwerbs einer sozial weiterführenden, größere Berufs- und Lebenschancen eröffnenden Sprache“ in einem eigenen biografischen Essay am Beispiel seines mütterlichen Urgroßvaters, des aus Mähren stammenden Juristen Franz Anderle, auf. Doch entstand im Laufe der Zeit ein immer stärkerer Zwang, sich zu deklarieren. Vor allem konnte die fortschreitende "Ethnisierung“ auch bis zu einem gewissen Grad das Ende der freien Entscheidung für die Zugehörigkeit zu einer Nation inklusive Schulwahl etc. bedeuten, die wohl schwerwiegendste Konsequenz dieses Prozesses, den Stourzh eindringlich zusammenfasst.

Es wäre nicht Gerald Stourzh, würde er im vorliegenden Band nicht auch noch andere Aspekte seines breit gestreuten historischen Œuvres streifen. So finden sich zwei Aufsätze zur österreichischen Außenpolitik: Einer enthält einen wenn auch schon zwei Jahrzehnte zurückliegenden, so doch nach wie vor wesentlichen Zusammenschnitt der österreichischen Außenpolitik 1933-1938; der andere knüpft an seine Staatsvertragsforschungen an. In dem einfühlsam gearbeiteten Beitrag "Die Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt“, der ursprünglich in der Festschrift seines Freundes Wolfgang Mantl erschien, dem auch der vorliegende Band gewidmet ist, knüpft Stourzh an sein großes Thema der Menschenrechte und Menschenwürde an. Das Zitat kann er Fichte zuschreiben - er verfolgt seine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte nach, bis hin zur Perversion durch die nationalsozialistische Propaganda Mitte der 1930er Jahre.

Künstlerisch feinsinniger Freigeist

Schließlich finden sich auch zwei Beiträge biografischen Inhalts über Historikerkollegen. Einer davon widmet sich dem Schweizer Jean Rudolf von Salis, manch Älterem, der 1939-1945 verbotenerweise ausländische Sender hörte, noch als wöchentlicher Kommentator des Kriegsgeschehens von "Radio Beromünster“ geläufig, manch Jüngerem auf Grund seiner nach wie vor lesenswerten mehrbändigen "Weltgeschichte der neuesten Zeit“. Wie Stourzh ein Polyhistor mit großen politischen Interessen, die ihn jedoch nie dazu verleiteten, seine distanzierte Position als Analytiker aufzugeben, ist der 1996 hochbetagt verstorbene Salis stets ein liberaler, künstlerisch feinsinniger Freigeist geblieben. Fast könnte man glauben, dass Gerald Stourzh in ihm nicht nur das Bild eines von ihm hochgeschätzten Kollegen nachzeichnet, sondern mehr noch das eines Menschen, dem er sich in manchem wesensverwandt fühlt.

Der Umfang der österreichischen Geschichte

Ausgewählte Studien 1990-2010

Von Gerald Stourzh, Böhlau 2011

256 Seiten, kart., e 41,10

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