Raggers Prosapoesie

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Von der Sucht nach Einsamkeit zur Einsamkeit zu zweit.asdasd

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Von der Sucht nach Einsamkeit zur Einsamkeit zu zweit.asdasd

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Das Phantastische war für den Dichter immer schon durch einen kleinen Trick erreichbar: im Märchen springt man in den Brunnen, bei Lewis Caroll tritt man durch die Spiegel, bei Calvino steigt man in den falschen Zug.

Gernot Ragger inszeniert in seinem neuen Buch den Einstieg auf eine neue Art. Er hält in schwarzer Nacht ein schwarzes Blatt Papier vors Gesicht, macht in der Mitte einen kleinen Riß und tritt dann durch die weiße Wunde mühelos in die andre Welt. In fünf Nächten bereist er Traumlandschaften, aus denen er je eine Liebesgeschichte herüberrettet. Als Reiseführer empfiehlt er uns die Nachfolge dringend.

Die Geliebte dort ist ein namenloses, inniges Wesen, das im Dunkelraum der Nacht keine sichtbaren Konturen braucht. "Sie" ist das Medium, durch das der Wahnsinnliche in einem zweiten Einstieg die Innenwelt der sinnlichen Liebe betritt. Vereint erlebt man die Wahnsinnskraft, die diese wahnsinnigen Geschichten erzeugt. Die Geschichten sind dann wahr, "weil ich sie selbst erlebt habe", so wahr eben wie Poesie.

Phantastisch ist alles: Man liebt sich unter Wasser, im Schnee, im freien Fall. Am schönsten ist die Geschichte, wo sich die beiden in einem Brotlaib lieben, ofenwarm, geschützt durch die feste Kruste. In allen Fällen ist es Liebe im Extremen, in einer Urform, wo das Phantastische nicht Auswuchs, sondern Triebkraft der Entwicklung ist: Der Traum als Vorbild für die Wirklichkeit. Diese Urliebe muß sich bewähren im Heißwasser tiefer Sümpfe, im kalten Stahlbeton der Städte, im jahrelangen Irren, im Begafftwerden durch ein "Fratzenmeer" von Neidern. Alptraumhafter Ernst bisweilen, Prüfungen wie bei indischen Asketen, bei Tag besehen manchmal Comic-Brutalität. Aber so sind eben Nachtträume: sie kondensieren die Wirklichkeit zu einem Niederschlag, in dem die Elemente ungemischt und pur erscheinen. Die Liebe bei Ragger kennt keine inneren Probleme, im Innern des Kokons wirkt ungestörte Zärtlichkeit. Konflikte werden außen ausgetragen, dort wird gekämpft, gelitten. Der Traum trennt seine Schauplätze.

Außer den beiden Liebenden treten nur wenige Figuren auf, durchwegs als Leit-Symbole: der alte Mann etwa, manchmal Helfer, manchmal Warner. Oder die Katze als stummer Beobachter, die das geflossne Blut aufleckt und am Boden festfriert, stellvertretend wie ein Tieropfer. Nichts ist willkürlich, und alles regt, wie bei echten Träumen, sogleich zur Deutung an.

Die Einzelbilder des Phantastischen sind dabei real: Fußwanderungen führen durch Gebirge, Wälder, Straßen, Häuser. Der Schnee wird kindlich begrüßt wie der erste Schnee des Jahres, der Winter verabschiedet, als wär's der letzte des Lebens. Tagszenen, die in der Nacht besonders plastisch, farbig werden. Der Liebesrausch erweitert die Wahrnehmung wie eine Droge und zeichnet auch das beiläufig Erfaßte scharf und genau.

Ragger arbeitet mit einfachen Mitteln, kleinen Bildausschnitten, wie sie klaren Träumen eigen sind. Der Blickkegel wandert ruhig geführt über die Landschaften; romantisch-einladend, wo er verweilt; surrealistisch-überraschend, wo er springt.

Keine Wortextravaganz, kaum Wortspiele. Konsequente Kleinschreibung und der Verzicht auf Satzzeichen machen den Fortgang flüssig. In diesem Strom lagern sich die Satzteile bereitwillig aneinander: Die Sprachstruktur entspricht dem linearen, lückenlosen Fluß des Traums. Beim Lesen schütteln sich von selbst Gedichtzeilen zurecht, obwohl der Text fortlaufend ausgeschrieben ist. Das Layout gliedert weiter die größeren Gedankenfelder wie zu Strophen. Prosapoesie.

Gernot Ragger, geboren 1959 im Lavanttal, war immer schon "süchtig nach Einsamkeit", seit seinem ersten Leuchtturm-Roman auf den Hebriden "Scalpay" (1989), bis zu seinem vorletzten Buch, dem Kreta-Bericht "365" (1996). Jetzt ist es Einsamkeit zu zweit geworden, mit einer neuen, ungeheuren Stärke gegen alles Äußere. Vereinte Überlebenskraft aus dem Phantastischen.

Der Wahnsinnliche Von Gernot Ragger Der Wolf Verlag, Wolfsberg 1997 140 Seiten, geb., öS 228.

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