Raubgut unterm Prunksaal

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Ende des Gedächtnisschwundes im Gedächtnis der Nation: die Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit.

Während der Durchsicht tausender beschlagnahmter Bücher in der ÖNB fielen der Historikerin Margot Werner vier orientalische Handschriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert durch ihr markantes Exlibris auf: "Hugo Friedman Vindobonensis". Der jüdische Textilfabrikant wollte 1939 aus Österreich emigrieren. 10.800 kg Umzugsgut lagen bereits im Hafen von Triest. Hugo Friedmann wurde zusammen mit seiner Frau, dem damals 14-jährigen Sohn und der 10-jährigen Tochter deportiert. Kein Familienmitglied überlebte den Krieg. Der Inhalt seiner Umzugskisten ist verschwunden. Bis auf die vier Handschriften. Der damalige Generaldirektor der Nationalbibliothek Paul Heigl unternahm 1944 mehrere Reisen nach Triest, um 200.000 in der dortigen Synagoge lagernde beschlagnahmte Bücher zu sortieren und im gesamten deutschen Reich zu verteilen. Vermutlich sind Friedmanns Kostbarkeiten auf diesem Weg nach Wien gekommen. Als 1948 wieder "Normalität" in der ÖNB herrschte, wurden die Handschriften trotz des ins Auge stechenden Exlibris mit dem Vermerk inventarisiert: "Aus altem Bestand, während der Kriegszeit 1939-45 der Handschriftensammlung zugewiesen". Jetzt bekommen die Erben nach Hugo Friedmann den Besitz ihres Angehörigen zurück.

Bibliotheksübernahmen

Der vollendet schöne Bau der ÖNB beherbergt nicht nur das Nonplusultra des Wiener Barock, den Prunksaal, sondern auch groteske, peinliche, ja brutale Spuren einer dunklen Vergangenheit, die vor 70 Jahren begann. Nach dem Verbot der Sozialdemokratie erließ der austrofaschistische Staat 1934 den Befehl, vom Bodensee bis zum Neusiedler See alle Büchereien, Vereine und Bildungseinrichtungen zu "säubern". Sozialdemokratisches und NSDAP-Schrifttum musste der NB übergeben werden. Der Vorgänger (und Nachfolger) Heigls, Josef Bick, sah eine Chance zur großen Erweiterung der Bibliothek. Bick wurde 1938 abgesetzt, kam ins KZ Dachau und nach Sachsenhausen; nach seiner Entlassung stand er bis 1945 unter Hausarrest.

Der glühende Nationalsozialist Heigl war manisch besessen von der Idee, den Bücherbesitz jüdischer Emigranten an die NB zu bringen. Zudem trieb ihn der Ehrgeiz, die NB zur zweitgrößten Bibliothek im Reich zu machen. Berlin konnte er nicht überflügeln, aber gegenüber der Bayerischen Staatsbibliothek in München sah er gute Chancen. Von 1938 bis 1945 gelangten mindestens 150.000 Bücher und 45.000 Sammlungsobjekte unrechtmäßig in die NB. Große jüdische Privatbibliotheken, etwa die von Heinrich Schnitzler und Alphonse de Rothschild, wurden ebenso geraubt wie die Bibliotheken von Freimaurerlogen oder jene des Missionshauses St. Gabriel in Mödling. Es gab auch Anfragen an den Generaldirektor seitens der Gestapo, ob die NB diese oder jene Bibliothek übernehmen wolle. Er wollte. Immer. Wie Kohlenladungen kamen die Bücher: Botschaftsbibliotheken, die Bücher aller tschechischen Schulen in Wien, Bestände aus Jugoslawien und dem Adriatischen Küstenland. Heigls Begehrlichkeit richtete sich auch auf Bücher aus Frankreich, Rumänien, Polen, der Sowjetunion: Er ließ sich Bibliotheken "reservieren", weil es an Transportmöglichkeiten fehlte. Die Unterlagen verwaltete er allein und vernichtete sie kurz vor seinem Selbstmord im Jahr 1945.

Im Gang, der das ehemalige Augustinerkloster mit der Albertina verband, lagerten die geraubten Bücher, aber nicht nur sie. In diesen "Sarg" stopfte man nach Kriegsende Berge von NS-Literatur. 67 Tonnen wurden 1947 aus der NB zur Makulatur an die Neusiedler Papierfabrik übergeben.

Restitution des Raubgutes

Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Beraubten Anträge mit Listen der geraubten Bücher vorlegen. Viel wurde unbürokratisch zurückgegeben. Ein Problem blieben die kleinen Bibliotheken und Einzelstücke, die niemand zurückverlangte. Mit dem Kunstrückgabegesetz von 1998 übernahm die ÖNB (und zahlreiche Museen) die Aufgabe, von sich aus alle fraglichen Bestände systematisch nach Raubgut zu prüfen; es war ein spätes Nachholen einer in der Nachkriegszeit versäumten Pflicht. Ergebnis des Provenienzberichtes: Auf 3000 Seiten wird das Ergebnis einer Generalautopsie von fragwürdigen Erwerbungen in der NS-Zeit mit Empfehlungen an den Beirat für Provenienzforschung aufgelistet; weiters beschreibt die Historikerin Margot Werner in dem Bericht zahllose Fälle von entzogenem Vermögen anhand von Akten verschiedener Archive. 25.000 Objekte unrechtmäßiger Erwerbungen befinden sich noch immer in der ÖNB. Einige sind in der Ausstellung "Geraubte Bücher" derzeit zu sehen. Ebenso Fallbeispiele von Beraubungen - menschliches Leid wird hinter dem materiellen Verlust sichtbar. Darüber hinaus dokumentieren Akten und Fotos die dunkelste Epoche der ÖNB. Aber auch den Einsatz vieler Mitarbeiter, die beileibe nicht alle Nazi waren: Man sieht sie, wie sie den gesamten Prunksaal leer räumen - Bücherrettung, Bücherliebe.

Der Mut der jungen, unbelasteten Generaldirektorin Johanna Rachinger, sich der Vergangenheit dieser staatstragenden Institution ÖNB zu stellen, ihre kluge Entscheidung, für die Forschungen eine noch jüngere hausfremde Historikerin einzuladen, sowie der spannende Katalog des kanadischen Germanisten Murray Hall, lassen Gutes für die Zukunft des Gedächtnisses der Nation hoffen.

GERAUBTE BÜCHER

Prunksaal der ÖNB

Josefsplatz 1, 1010 Wien

Bis 23. 1. Di-So 10-18, Do bis 21 Uhr.

www. onb.ac.at

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