Suche nach der Zukunft in der Vergangenheit

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Eines der rund hundert Bücher des 1933 verstorbenen Gyula Krudy wurde nun übersetzt.

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Eines der rund hundert Bücher des 1933 verstorbenen Gyula Krudy wurde nun übersetzt.

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Die Luft liegt schwer über den Bierkrügen in der kleinen und gepflegten Gaststube in Budapest. Die Gesellschaft hängt, müde nach der durchzechten Nacht, in ihren Stühlen. Die Stimmung könnte genauso sanft einschlafen wie der eine oder andere der Zechbrüder. Doch der ungarische Schriftsteller Gyula Krudy verstand sich darauf, die Geschichte immer wieder in Schwung zu bringen, wenn Müdigkeit droht. Der Journalist und notorische Nachtschwärmer war ein Meister im Erzeugen von Atmosphäre.

Der 1933 in Budapest gestorbene Schriftsteller hinterließ ein umfangreiches Werk von hundert Bänden. Nun erscheint sein Roman "Meinerzeit" in einer überzeugenden ersten deutschen Übersetzung.

Zwei Herren und eine junge Dame wollen nur ein Gabelfrühstück in der Bierstube zu sich nehmen. Der Aufbruch gelingt ihnen aufgrund der außerordentlichen Ereignisse aber erst in den frühen Abendstunden, als sich der Betrieb durch das Eintreffen der Stammgäste normalisiert. Die erste Runde, die zu ihnen stößt, ist die schon nicht mehr so heitere Gesellschaft um Herrn Pisa, den ehemaligen k.u.k. Präsidenten der Steuerkommission. Der folgende Streit mit dem Wirt, der von den Gästen, die die letzte Nacht "durchgemacht" haben, nicht gerade begeistert ist, ist nur der Auftakt zu einer Reihe von bizarren Situationen. Der Tag in der gemütlichen Bierstube wird von Erinnerungen an die Zeiten der Monarchie und persönlichen Anekdoten belebt. Diese beiden Erzählebenen werden mit einer dritten Zeitschiene, der zukünftigen, verwoben, indem der Erzähler immer wieder einwirft, wie dieser Tag in die Erinnerung der Anwesenden eingehen wird. Unter diesem Gerüst von zeitlichen Perspektiven versinken die Gäste mehr und mehr in der angeblich so glorreichen Vergangenheit. Die ungarischen Originale, die sich hier versammelt haben um vergangenen Zeiten nachzutrauern, sind aber noch nicht genug, um den Tag unvergeßlich zu machen. Nachdem selbst der aufdringliche Friseur, der die Gesellschaft einige Zeit unfreiwillig unterhielt, sich wieder beruhigt hat, erscheint der Herzog von Padua. Begleitet wird er von einem bekannten Nachtschwärmer. Die Stimmung im Wirtshaus gerät vollends aus den Fugen, als dieser findige Begleiter für einen Freund, der gerne auf dem Klavier vortragen möchte, tatsächlich einen Flügel auftreibt. Schon bald erklingen in den alten Mauern beliebte Operettenmelodien. Die Wirtin und Vilma, die junge Frau, die nur auf ein Frühstück hereingekommen ist, werden zum Tanzen aufgefordert.

Der Autor baut präzise die Stimmung auf. Durch genaue, dabei aber zurückhaltende Darstellung der Geschehnisse, Dialoge und Erzählungen der Personen zeichnet er die Spannungen einer Zeit, die ebenso gespalten ist wie die Gäste. Er zeigt Menschen aus verschiedenen Schichten, vom Friseur bis zum Herzog. Sie alle haben in ihrer Zeit noch nicht ihren Platz gefunden. Die junge Vilma gab ihren Beruf als Lehrerin auf und sucht nun in Budapest nach einer neuen Berufung. Der Präsident, durch den Untergang der Monarchie seines Amtes verlustig, trinkt nicht, um zu vergessen, sondern um sich zu erinnern. Auf die eine oder andere Weise ist keiner der Gäste mit seinem Leben zufrieden, und so haben diese so unterschiedlichen Menschen eben doch etwas gemeinsam. Der Versuch, den Tag, diesen einen Tag, aus dem einzigen Grund, damit er nicht so sei wie der gestrige oder der morgige oder irgendein anderer, zu etwas Besonderem zu machen, vereinigt sie. Einmal noch die alte Zeit heraufbeschwören, die "selige Jungherrenzeit", den Wirt ärgern, den Kellner quälen, bis sie sich grün und blau ärgern.

Doch die Suche nach der Zukunft in der Vergangenheit muß scheitern. Und so trennen sich die Gäste, wie sie sich getroffen haben, zufällig und beiläufig. Was bestehen bleibt, bleiben muß, ist eine Erinnerung mehr an ein unvergeßliches Ereignis in Budapest, im Gasthaus "Stadt Wien".

Meinerzeit Roman von Gyula Krudy, Deutscher Taschenbuch Verlag DTV, München 1999, 232 Seiten, Tb., öS 175/e 12,27,

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