Unabhängige Richter werden gestärkt

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Die Diskussion über die Weisungshierarchie ist legitim - doch sie soll die Zugewinne in rechtsstaatlicher Sicht nicht verdecken.

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Die Diskussion über die Weisungshierarchie ist legitim - doch sie soll die Zugewinne in rechtsstaatlicher Sicht nicht verdecken.

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Das strafprozessuale Vorverfahren leidet bisher an der Kluft zwischen Gesetz und Praxis. Nach dem Gesetz wäre die richterliche Voruntersuchung vom Richter "persönlich und unmittelbar" zu führen. Tatsächlich werden in der Praxis auch längst bekannte Beschuldigte durch Erhebungen der Polizei verfolgt. Eigentlich wäre die Polizei jedoch auf die "keinen Aufschub gestattenden vorbereitenden Anordnungen" beschränkt. Sie müsste, "von ihrem Einschreiten und dessen Ergebnis dem zuständigen Staatsanwalt oder Untersuchungsrichter sogleich Mitteilung machen". Die dem eigentlichen Strafverfahren vorgelagerte und weitgehend ungeregelte Polizeitätigkeit, die nur Informationscharakter haben sollte, wurde zum Regelfall des strafprozessualen Vorverfahrens.

Das Rechtsschutzdefizit liegt auf der Hand: Alltägliche polizeiliche Ermittlungen finden praktisch ohne gesetzliche Grundlagen statt (Vernehmungen von Verdächtigen und Zeugen, Identitätsfeststellungen et cetera). Der Staatsanwalt hat kein selbständiges Ermitttlungsrecht und ist auf die rechtliche Würdigung der Ermittlungen anderer und deren Weiterleitung an das Gericht beschränkt; er kann nur die Polizei oder den Richter, der in diesem Fall an die Anträge des Staatsanwalts gebunden ist, um Ermittlungen ersuchen. Beschuldigte und Opfer von Straftaten können in diesem Verfahrensstadium keine Rechte beanspruchen, Akteneinsicht steht ihnen erst zu, wenn das Verfahren bei Gericht anhängig geworden ist, Beweisanträge kann der Beschuldigte nur im Stadium der Voruntersuchung erheben.

Der Entwurf will daher * den weitgehend praktizierten kriminalpolizeilichen Ermittlungen einen zweckmäßigen und ausreichenden rechtlichen Rahmen geben, * ein flexibles Kooperationsmodell für das Zusammenwirken von Polizei und Staatsanwaltschaft entwickeln (faktische Ermittlungskompetenz der Polizei und rechtliche Leitungs- und Koordinierungsaufgabe der Staatsanwaltschaft), * die Verteidigungsrechte der Beschuldigten festschreiben und einheitlichen Rechtsschutz gewähren (Beschwerdemöglichkeit aller Betroffenen bei Gericht gegen polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Eingriffe in subjektive Rechte) sowie * die Stellung der Opfer verbessern und besonders die Rechte von emotional besonders belasteten Geschädigten (Gewalt- und Sexualdelikte; nahe Angehörige von getöteten Personen) wesentlich stärken.

Die Neuordnung der Kompetenzen zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht ist bereits als "Griff nach mehr Macht" bezeichnet worden. Alles, nur das nicht. Der ermittelnde Richter, der unter Aufsicht der Ratskammer steht, widerspricht dem modernen Richterbild. Ein und dieselbe Person sollte nicht zunächst die Notwendigkeit von Ermittlungen und später deren Gesetzmäßigkeit beurteilen. Die Staatsanwaltschaft tritt in die ermittelnde Funktion des Richters und stärkt damit dessen Aufgabe, die Rechte der Betroffenen zu schützen. Die Unabhängigkeit des Gerichts wird somit gestärkt. Es kann ohne Rücksicht auf eine Erschwerung der eigenen Ermittlungen die staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Ermittlungen kontrollieren.

Diese Aufgabe wird durch stärkere Verteidigungs- und Beteiligungsmöglichkeiten des Beschuldigten begleitet und damit ein wirksames strukturelles Gegengewicht zum ermittelnden Staatsanwalt geschaffen. Im Übrigen verteilt sich die Durchführung der Ermittlungen auf Staatsanwaltschaft und Polizei, sodass die Staatsanwaltschaft eher als Koordinator und Kontrollor beziehungsweise justizielles Gegengewicht zur Polizei auftritt. Die Diskussion über das Organisationsrecht, besonders die Frage nach der Weisungshierarchie ist legitim, sie soll allerdings die Zugewinne in rechtsstaatlicher Sicht nicht verdecken.

Der Autor ist stellvertretender Leiter der für das Strafverfahren zuständigen Abteilung des Justizministeriums und hat den Entwurf mitverfasst.

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