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Kennzeichen einer Hauptstadt

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Entbürokratisierung, schlanke Verwaltung, Bürgernähe, hohe Lebensqualität statt Pseudour-banität - das empfiehlt Michael Maier, Chefredakteur der „Berliner Zeitung" (davor Chefredakteur der Wiener „Presse") der niederösterreichischen Landeshauptstadt St. Pölten. Maier referierte anläßlich der Präsentation des furche-Dossiers „Kernland Niederösterreich" (12/1996) am 22. März im Niederösterreichischen Presse-Club in St. Pölten zum Thema „Was macht eine Stadt zur Hauptstadt?" und stellte sich dann einer lebhaften Diskussion.

Maier analysierte die gegenwärtige Situation in Berlin und Potsdam sowie in Wien und St. Pölten und das Verhältnis dieser Städte zueinander. Da Politik insgesamt diskreditiert sei, verliere die Tatsache, daß eine Stadt Begierungssitz ist, an Bedeutung, meint Maier. Die bisherige deutsche Hauptstadt Bonn sei ein Beispiel für „nackte Funktionalität". In Berlin werde es sicher noch eine Generation dauern, bis die Wunden der Trennung in Ost (dort tendiert man zu mehr Fremdenfeindlichkeit) und West (dort gibt es mehr Arbeitslosigkeit) heilen. Potsdam, das mit der Fusion von Berlin mit Brandenburg gemeinsame Hauptstadt dieser Region werden soll, könnte eine der schönsten Städte Europas werden.

Für Wien stellt Maier eine Parallele zu Berlin fest: „Beide leiden unter dem Wegfall des Kommunismus." Früher habe es mehr Austausch mit dem Osten gegeben. In Wien sei nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein „seidener Vorhang" niedergegangen. Die Bundeshauptstadt wirke wie ein „lebendes Museum", ihr drohe das „Grazer Schicksal" einer Pensionistenstadt. Die einst vielzitierte Achse Berlin-Prag-Wien sei heute tot.

Das Millennium sei eine Chance für St. Pölten, das nicht der Gefahr von Großmannsucht erliegen, sondern sich als Gegenpol zu Wien im größeren Urbanen Umfeld sehen sollte. Niederösterreich könnte der „Wiener Müdigkeit" entkommen und den Dialog mit den Nachbarländern wieder beleben. Als traurig bezeichnete der Chefredakteur der „Berliner Zeitung", daß es in Niederösterreich keine eigene Tageszeitung gibt, gerade im Medienbereich könnte St. Pölten echte Chancen wahrnehmen.

Ob die Zeit für eine St. Pöltener Tageszeitung „noch nicht reif oder schon „überreif" sei, darüber gingen in der Diskussion die Meinungen auseinander. Hingewiesen wurde auf beachtliche Entwicklungen in den Bereichen Kultur, Wirtschaft und Sport, die Geruchsbelästigung durch die Glanzstoff-Fabrik soll bald Vergangenheit sein. Ob der heute schon der Geschichte angehörende Beschluß, St. Pölten zur Landeshauptstadt zu machen, heute noch möglich wäre, blieb offen. Der Wettbewerb zwischen den größeren Städten Niederösterreichs sei dadurch jedenfalls eher positiv belebt worden.

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