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Stadt und Festung Gibraltar

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Nach der Schließung des spanischen Konsulats wurde nunmehr auch die Schließung der spanischen Verkehrsbüros in Gibraltar verfügt.

Madrid, im November

Man braucht nirgends nachzuschlagen und sich an niemanden zu wenden, man braucht nur an den Grenzlinien zwischen dem spanischen Territorium und dem vielbesprochenen Felsen, in La Línea de la Concepción, zu stehen und die Atmosphäre auf sich einwirken zu lassen, um mit absoluter Sicherheit zu wissen, daß etwas Besonderes, Entscheidendes vor sich geht. Es ist nicht nötig, den Rückgang des Verkehrs, die geringere Anzahl ausländischer Autos festzustellen, sich vergeblich nach jenen wohlvertrauten, unverkennbaren Grenzgestalten umzusehen, die im Laufe von Generationen höchstens kleine Aenderungen an ihrer Kleidung vorgenommen zu haben scheinen, um zu erkennen, daß eine umwälzende Wandlung, ein geradezu organischer Umbruch in der Geschichte des Felsens von Gibraltar vor sich geht.

Wandlung und Umbruch, keinesfalls aber Neuerung, sondern nur Rückkehr zu den Ursprüngen, zum Ausgang: zum Vertrag von Utrecht! Festung und nur Festung sollte der Felsen nach den Bestimmungen des Utrechter Vertrages sein, militärischer Stützpunkt und sonst nichts, ohne jede zivile, unmilitärische Beigabe, ohne, bürgerlichen Alltag, ohne Handel und Wandel, für sich allein feststehend, vom Wasser und starren Schranken eingeschlossen, ohne jede Verbindung mit dem Festland. Die bürgerliche Siedlung Gibraltar sollte, als, die spanische Bevölkerung unter Mitnahme von Fahnen, Schlüsseln, Siegeln und Pergamenten den Felsen verließ, um sich in San Roque niederzulassen, ihr endgültiges Ende gefunden haben; nur Englands Fahnen, Soldaten und Kanonen sollten verbleiben. Erst im Laufe der Jahre und

Jahrhunderte, mit dem Abnehmen der internationalen Geltung Spaniens und dem Zunehmen seiner Ohnmacht, mit der Verstaubung des Utrechter Vertrages , entstand neben der Festung Gibraltar die parasitäre Neusiedlung Gibraltar, wurden die einstmaligen spanischen Wohnviertel fortschreitend von einem internationalen Rassengemisch überflutet und zwischen Fels und Meer erweitert, gedehnt und gepfercht.

Der eine Teil des Vertrages von Utrecht, die Besetzung des Felsens durch England, blieb unverändert aufrecht, der andere Teil, seine Beschränkung- auf rein militärische Zwecke, geriet in Vergessenheit. Neben der Festung von Gibraltar entstand die Stadt von Gibraltar, der Markt von Gibraltar, der Stapelplatz von Gibraltar, der Hafen von Gibraltar, das Schmuggel- und Spionagezentrum von Gibraltar. Es gab nichts, was nicht vom spanischen Festland nach dem Felsen und zurück geschmuggelt wurde, von Zigaretten angefangen bis zu- Menschen, von den wildesten der Gerüchte, den phantastischesten aller Meldungen bis zu den gefährlichsten und schicksalhaftesten Agentenberichten.

Und nun soll es anders sein, nun soll es wieder keine Stadt, sondern nur mehr eine Festung geben. Warum? Weil seit dem vor etwa acht Monaten trotz des spanischen Protestes erfolgten Besuch der Königin Elisabeth die Rückführungsaktion zum Vertrag von Utrecht begonnen hat. Wenn Englands Standpunkt auf diesem Vertrag basiert, dann soll dieser Vertrag auch bis zum letzten I-Tüpfel- chen eingehalten werden, dann soll der Felsen auch nur mehr Festung sein, es sollen wieder nur mehr Soldaten, Kanonen und Fahnen sich darauf befinden, es soll Schluß sein mit internationaler Bevölkerung, internationaler schwarzer Börse, internationalem Schmuggel und internationaler Spionage, es soll keinen Handel und Wandel mehr geben, es soll keinen Handels- und Verkehrshafen Gibraltar mehr geben, die Scheidelinie zwischen dem Felsen und dem Festland soll so sein, wie sie einst festgelegt war: starre, undurchdringliche Grenze!

Die Maßnahmen, die Spanien zur Erreichung dieses Zieles ergriffen hat, zeigen ihre Wirkungen. Die Schließung des spanischen Konsulats in Gibraltar, der nunmehr die Schließung des spanischen Verkehrsbürös gefolgt ist, hat jeden Zivilverkehr mit dem Festland,, jeden Transitverkehr über Gibraltar unmöglich gemacht. Schwarzhandel und Agentendienste sind gelähmt. Der Felsen ist abgewürgt. Die einzigen, die hinüber- und herübergehen, sind die 12.000 bis 16.000 spanischen Arbeiter; daß sie von englischer Seite benötigt werden, beweist, daß man sich endlich bequemt, sic in sozialer und materieller Hinsicht den englischen Arbeitskräften gleichzustellen. Für den Fall, daß England an ihre Ersetzung denken sollte, sind vorbeugend Arbeitsplätze für 5000 in Rota und Cartagena bereitgestellt. Wollte man aber wissen, welchen Unterschied die Abschnürung des Felsens auf rein materiellem Gebiete für England bedeutet, brauchte man nur bestimmte Ausfuhrposten der englischen Handelsbilanz mit bestimmten Einfuhrposten der spanischen Handelsbilanz zu vergleichen.

Es würde sich ein Unterschied von rund 20 Millionen Pfund jährlich ergeben, der Gegenwert der Waren, die alljährlich auf schwarzen Wegen vom Felsen nach dem Festland gingen.

Und mit dem Abzug der Schwarzhändler auf der einen Seite muß die Auswanderung der parasitären Bevölkerung auf der anderen folgen. Die Schiffahrtslinien sollen ihre Landestelle für ihre Ueberseepassagiere von Gibraltar nach Algeciras verlegen.

Wird tatsächlich der Rückweg zum Vertrag von Utrecht bis zu Ende gegangen werden? Wird wirklich die Stadt Gibraltar endgültig verschwinden, wird es in Hinkunft nur mehr eine Festung Gibraltar geben? Die Bewohner der Festung hätten nichts dagegen, die Soldaten fühlen sich nur wohler ohne die Koexistenz der internationalen Mischbevöikerung. — Darüber, daß das Endziel Spaniens die Rückgewinnung des Felsens ist, besteht kein Zweifel, ebensowenig darüber, daß England nicht von seinem Standpunkt abgehen will. Daß die Beweggründe für beide Standpunkte nunmehr weniger praktischer als national-sentimentaler Art sind, macht es nicht besser, sondern schlechter. — Es bleibt nur abzuwarten, ob es einzig die Festung sein wird, die einmal übrig bleibt, ob es von seiten Englands keiner Umsiedlung mehr bedürfen wird, sondern des Einziehens von Fahnen und des Abtransportes von Truppen.

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