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Firma als Heimat, Familie als Hort der Entfremdung: Die US-Soziologin Arlie Russell Hochschild untersuchte die Zeitfallen berufstätiger Eltern - und ihre Unfähigkeit, Work-Life-Balance herzustellen.

Der Traum modernen Arbeitens schien in Spotted Deer zu Hause zu sein - hier im Mittleren Westen der USA, in einem atemberaubenden Neubau aus Stahl und Glas: Betreuungsangebote für Kinder, flexible Arbeitszeiten, Teilzeit- und Telearbeit sollten es den 6.000 Beschäftigten der Firma "Amerco" ermöglichen, Beruf und Familie in Balance zu bringen.

Der gute Ruf des Unternehmens rief Arlie Russell Hochschild auf den Plan. Drei Sommer lang, von 1990 bis 1993, studierte die Soziologin und Professorin an der Berkeley University die Eckpfeiler jenes Wunderbetriebs, den sie selbst "Amerco" getauft hatte. Sie begleitete Mütter in den Ganztageskindergarten und nach Hause, sprach mit Personalleitern und Fließbandarbeiterinnen - und stieß auf ein Paradoxon: Obwohl die Beschäftigen über zu hohe zeitliche Belastung klagten, und obwohl das Unternehmen Hilfe anbot, diese zu verringern, pochte fast niemand darauf. Keiner schien bereit, gegen das Übergreifen der Arbeits- auf die Familienzeit ankämpfen zu wollen. Im Gegenteil: Beschäftigte mit kleinen Kindern steckten sogar mehr Stunden in die Arbeit als ihre kinderlosen Kollegen.

Warum? Waren sie auf das Geld angewiesen? Oder hatten sie Angst, durch Akzeptanz eines Teilzeitjobs bald völlig ausrangiert zu werden? Keines von beiden traf auf "Amerco" zu. In ihrem nun auf deutsch erschienenen Buch "Keine Zeit - Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet" fördert Arlie Russell Hochschild einen tiefer liegenden Grund zu Tage: der Arbeitsplatz war für viele zum eigentlichen Zuhause geworden, zu jenem Ort, wo man geschätzt wurde und Freunde fand, während das familiäre Leben immer öfter als stressreich und entfremdend empfunden wurde.

Eine Diagnose, die nur für die amerikanische Arbeitswelt der neunziger Jahre gilt? Tatsache ist, dass ähnliche Entwicklungen - zumindest in professionalisierten Berufen - auch hierzulande um sich greifen. So stellte auch Helmut Kasper, Professor für Change-Management an der Wirtschaftsuniversität Wien, in einer Studie über "Führungskräfte im Spannungsfeld zwischen Beruf und Privatleben" eine "Erotisierung der Arbeit" und "familiale Versachlichung" fest. "Während Macht im Job positiven Stress verursacht, funktioniert die Familie immer mehr wie ein Dienstleistungsbetrieb", erklärt er gegenüber der Furche. Gerade durch flexible Arbeitszeitmodelle und Telearbeit würden die Grenzen zwischen Beruf und Privat immer mehr verschwimmen - zu Lasten der Familie, weiß Kasper: "Bei ständiger Verfügbarkeit führt die Flexibilität bald zur Fremdbestimmung."

Eine Analyse, der sich Peter Scheer, Leiter der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätskinderklinik in Graz, nur anschließen kann. "Telearbeit kann auf die Familie verheerende Folgen haben: Man ist immer da, aber nie ansprechbar." Gemeinsam mit Helmut Kasper führte Scheer im Rahmen der Manager-Studie zahlreiche Soziodramen durch - und kam zu ernüchternden Ergebnissen: "Die Familie wird so verstanden, wie man es sich vom beruflichen Umfeld erwarten würde - als Pflicht und Notwendigkeit", erklärt er im Furche-Gespräch. "Alle sagen: Die Familie ist mein Hobby. Doch im Beruf finden sie viel mehr vergnügliche Anteile." Was die Kinderbetreuung betreffe, müssten sich die Powerfrauen und Topmanager jedenfalls entscheiden: "Je professioneller die Kinder betreut werden, desto professioneller werden die Kinder. Emotional werden sie aber ärmer."

Vereinsamte Kinder und zerrüttete Beziehungen als Folge der zunehmenden Ökonomisierung des Lebens? Der Sozialberater und Karrierecoach Alexander Norman hat mit derlei Fällen häufig zu tun. Zeit werde für berufstätige Eltern immer mehr zum Mangelprodukt. Umso öfter würden sie versuchen, kleine Fenster von "Quality Time" mit ihrer Familie einzuschieben: "Doch das geht nicht auf Knopfdruck", mahnt Norman.

Als Gegenbewegung zur Stressgesellschaft versteht sich die Work-Life-Balance-Philosophie. Ziel der vor zehn Jahren in den USA entstandenen Bewegung ist es, einen Ausgleich zwischen Arbeit, Freizeit und Familie zu erreichen. Spätestens, seit in Studien die positive Wirkung von Work-Life-Balance auf die Produktivität der Mitarbeiter nachgewiesen werden konnte, wurde dieser Gedanke auch in Österreich heimisch.

Ein Grundsatz lautet: Nicht bloße Anwesenheit, sondern Effizienz zählt. Besser als die Präsenz der Mitarbeiter zu kontrollieren wäre also, ihre Leistung zu evaluieren, bestätigt Gertraude Mikl-Horke, Professorin für Wirtschaftssoziologie an der WU Wien. Eine Forderung, zu der auch Arlie Russell Hochschild am Ende ihres Buches gelangt: Eine von ihr geforderte "Zeitbewegung" müsste die vorherrschende Arbeitsplatzkultur in Frage stellen - und damit den Umstand, dass viele Beschäftigte noch immer nach ihrer bloßen Anwesenheit beurteilt würden. Gerade die immer zahlreicher werdenden berufstätigen Frauen, hofft Russell Hochschild, könnten Mitstreiterinnen für eine solche Zeitbewegung sein.

KEINE ZEIT. Wenn die Firma zum

Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. Von Arlie Russell Hochschild.

Leske + Budrich, Opladen 2002. 340 Seiten, TB, e 18,50.

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