Was kostet die Welt?

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Die Keramikerin Vally Wieselthier gab dem Lebensgefühl der "wilden zwanziger Jahre" Ausdruck.

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Die Keramikerin Vally Wieselthier gab dem Lebensgefühl der "wilden zwanziger Jahre" Ausdruck.

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Die "wilden zwanziger Jahre": Waren sie wild? Was war das Wilde? In einer Ausstellung, aus einem neuen Buch springt uns ihre Atmosphäre frontal an. Junge Frauen blicken provokant auf uns, kokett, manche naiv, echt oder gespielt oder beides zugleich, oder an uns vorbei, verträumt, elegisch, erwartungsfroh oder desillusioniert. Die Galerie bei der Albertina auf dem Wiener Lobkowitzplatz zeigt Keramik der Wiener Werkstätte 1917-1932 in unglaublicher Dichte. Ergebnis einer fünfzehnjährigen Sammeltätigkeit. Schwerpunkt: Die Arbeiten von Vally Wieselthier, über die soeben bei Böhlau ein großartiger Bildband von Marianne Hörmann erschienen ist. Er basiert auf der Dissertation der Autorin. Das "Phänomen des weiblichen Kunsthandwerks innerhalb der Wiener Werkstätte" ist zum Gegenstand intensiver Forschungen geworden.

Was man da sieht, ist zum Teil von solcher Ausdruckskraft, daß die Frage naheliegt: Worin besteht denn da noch der Unterschied zwischen Kunst und Kunsthandwerk? Darin, wofür das Ergebnis bestimmt ist? Fehlanzeige: Eine in mehr oder weniger kleiner Auflage hergestellte Plastik wie etwa die "Giraffe" von Salvador Dali dient ebenso der Dekoration wie eine keramische Figur aus der Wiener Werkstätte. Liegt er im Unterschied zwischen Dekoration und Repräsentation, läßt er sich also kunstsoziologisch definieren, in Kriterien des Marktes? Wieder Fehlanzeige: Der Preis mancher Figur der Wiener Werkstätte läßt den Marktwert manchen guten Namens der "ernsten" oder "echten" oder "reinen" Kunst weit hinter sich. Läßt sich der Unterschied vielleicht so definieren, daß die Figur einer Kunsthandwerkerin lediglich dekorativen Zwecken dient, während die aus der Hand des Bildhauers unser Sehen weiterentwickelt, den formalen Prozeß vorantreibt, die Welt interpretiert? Vally Wieselthier gab dem Lebensgefühl der zwanziger Jahre nicht weniger großartig und überzeugend und mit nicht geringerem formalen Können Ausdruck als mancher Maler. Und sie läßt uns, auch dies untrügliches Kennzeichen großer Kunst, etwas sehen, was zu ihrer Zeit noch gar nicht erkennbar war.

Liegt der Unterschied etwa darin, daß sie nicht an der Akademie der bildenden Künste, sondern an der damaligen Wiener Kunstgewerbeschule ausgebildet worden war, daß ihr Material, der bemalte Ton, einfach dem kunstgewerblichen Metier zugeordnet wurde - und nicht zuletzt auch darin, daß sie eine Frau war? Damit kommen wir der Sache schon näher.

Vally Wieselthier durchbrach die Abgrenzungen des Kunsthandwerks von der Kunst mit einer Wucht wie niemand sonst im Zwanzigsten Jahrhundert in Österreich. Vieles, was sie machte, blieb im Rahmen des Kunsthandwerks, wenn auch in dessen obersten Regionen angesiedelt. Wo sie aber, Figuren und Köpfe modellierend, zum Kern ihrer Epoche vordringt, legt sie die Mauern im wahrsten Sinn des Wortes spielend, nämlich mit dem Material spielend, nieder. Dort zählt sie zu den Großen. Was damals vielleicht ihr selbst gar nicht so bewußt war. Oder doch? Als sich Vally Wieselthier in den USA, wohin sie bereits 1929 ausgewandert war (und wo sie 1945 starb), einmal aus irgendeinem Grund gekränkt fühlte, telegraphierte sie an den Präsidenten Roosevelt: "Sagen Sie diesen Leuten, wer ich bin!"

Sie war jedenfalls eine äußerst exzentrische Persönlichkeit. Heute wissen wir, was sie außerdem war: Eine Künstlerin, die als extrem emanzipierte Frau, die diese Emanzipiertheit oft auch extrem zur Schau trug, ihrem Lebensgefühl Ausdruck gab. Und damit dem Lebensgefühl von Millionen Frauen. Aus ihren Figuren spricht sehr viel mehr als Koketterie (auf diesen Nenner werden sie oft gebracht). Auch sehr viel mehr als Expressivität (die, ebenso wie die Koketterie, tatsächlich in hohem Maß vorhanden ist). Aus ihnen spricht das den tatsächlichen Verhältnissen vorauseilende Selbstbewußtsein moderner Frauen in der kurzen Phase zwischen Erstem Weltkrieg und Wirtschaftskrise mit nachfolgendem Absturz in die Unmenschlichkeit.

Vally Wieselthiers Figuren erzeugen ein Gefühl von Leichtigkeit, Unbeschwertheit, und im Bewußtsein dessen, was nachher geschehen ist, Wehmut. Sie erzählen uns etwas vom Lebensgefühl der Künstlerin. Mit dem aber war sie repräsentativ. Herausfordernd blicken ihre Mädchen, was kostet die Welt, der dunkle Hintergrund ist kaum zu merken, aber da: Wir sind gerade noch einmal davongekommen. Doch unterkriegen lassen wir uns nicht. So leicht und unbeschwert wurde die Frau nach 1945 nicht wieder dargestellt. Es ist bezeichnend, daß in den hinterlassenen Selbstzeugnissen der 1895 geborenen Tochter eines jüdischen Wiener Rechtsanwalts vom Ersten Weltkrieg nie die Rede ist - obwohl sie im letzten Kriegsjahr die ganze Woche ihrer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule widmete und am Wochenende täglich 15 Stunden in einem Lazarett Kriegsverletzte pflegte. Doch erst der Zweite Weltkrieg senkte den Schleier der Trauer über die Welt.

VALLY WIESELTHIER 1895-1945 Von Marianne Hörmann Böhlau Verlag, Wien 1999336 Seiten, ca. 83 Farb- und 300 SW-Bilder, bis 31.12.1999 öS 686,-/E 49,85dann öS 980,-/E 71,21

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