Die Wahrheit erzählen

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn mir in der Schlange vor der Supermarktkasse ein Mädchen mit Kopftuch, das bislang mit seinen Eltern türkisch gesprochen hat, eine Frage in einem so schönen Deutsch stellt, wie man es in Wien selten hört, dann wundere ich mich nicht, sondern habe das Gefühl, sie schon ein wenig zu kennen. Denn von Inimini, einer Hauptfigur in Barbara Frischmuths Roman "Der Sommer, in dem Anna verschwunden war", habe ich viel erfahren vom Leben zwischen den traditionellen österreichischen und türkischen Mentalitäten. Und wenn ich an den Naschmarkt denke, so fallen mir, seit ich Barbara Frischmuths "Die Schrift des Freundes" gelesen habe, mehr noch als die exotischen Gewürze die Aleviten ein - jene anatolische Bewegung, die das vorislamische, schamanistische Erbe hütet und seit den 1990er Jahren als Alternative zum orthodoxen Islam auftritt. Dass Zehntausende Aleviten in Wien leben, habe wohl nicht nur ich erst aus diesem Buch erfahren.

Seit Barbara Frischmuth als Zwanzigjährige 1961 ein Jahr an der anatolischen Universität Erzurum studierte, gehen die türkische Welt und die islamische Kultur in ihr Werk ein, beginnend mit dem ersten Roman "Das Verschwinden des Schattens in der Sonne" (1973). In ihren jüngsten Büchern geht es vor allem um die muslimischen Menschen in Österreichs Städten und Dörfern. Dass sie sprachlich auch im Ungarischen zu Hause ist und daraus wichtige Werke übersetzt hat, verwundert da schon kaum mehr. Dabei war 1963 auch ihr Studienaufenthalt im ostungarischen Debrecen keinesfalls etwas Gewöhnliches. Interesse und Verpflichtungen führen die mit wichtigen Preisen (u.a. Anton Wildgans-Preis, Prix Italia und Toleranzpreis des österreichischen Buchhandels) ausgezeichnete Schriftstellerin noch immer auf Reisen. Ein Gegengewicht hat sie, seit sie der Großstadt Adieu gesagt hat, in ihrem Haus und vor allem im Garten im heimatlichen Altaussee, wo sie am 5. Juli ihren 65. Geburtstag feierte.

Der Literatur von Barbara Frischmuth, in der Frauen immer die tragenden Rollen spielen und Märchen und Mythen oft gegenwärtig sind, wird nicht immer die Aufmerksamkeit zuteil, die sie verdient. Manche mag es irritieren, dass sie nicht bei den sprachkritischen Anfängen der "Klosterschule" oder den feministischen Positionen der Romantrilogie um Sophie Silber geblieben ist. Und die routinierten Profi-Beschimpfer Österreichs à la Robert Menasse sind in den Medien beliebter, weil man mit ihnen schnelle Aufreger produzieren kann. Barbara Frischmuths Österreich-Kritik hingegen meidet die grellen Thesen, hat aber einen klaren Blick für Details. Jedenfalls ist sie die am stärksten international orientierte Autorin des Landes und bringt Kenntnisse und Erfahrungen ein, über die kein anderer österreichischer Autor oder keine Autorin verfügt.

"Die Wahrheit, die erzählt wird, ist eine Wahrheit, und niemand fühlt sich genötigt, sie als die einzige oder die ganze zu halten." Barbara Frischmuths Satz in der Eröffnungsrede des Symposiums "Wir und die anderen" sagt klar, was sie der Literatur zutraut. Und mit diesem Erzählen hat sie nicht nur mir den Blick in fremde Welten vor der eigenen Haustüre geöffnet und vermeintlich Vertrautes in fremdem Licht sehen lassen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung