Frischmuth - © Foto: APA / Barbara Gindl

Barbara Frischmuth: Grenzgängerin zwischen Okzident und Orient

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Am 5. Juli feiert Barbara Frischmuth, Schriftstellerin und Übersetzerin, Schöpferin vitaler Frauenfiguren und Vermittlerin zwischen den Kulturen, ihren 80. Geburtstag.

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Am 5. Juli feiert Barbara Frischmuth, Schriftstellerin und Übersetzerin, Schöpferin vitaler Frauenfiguren und Vermittlerin zwischen den Kulturen, ihren 80. Geburtstag.

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In ihrer Poetikvorlesung „Traum der Literatur – Literatur des Traums“ formuliert Barbara Frischmuth 1991 ihren weiblichen Traum von der selbstverständlichen Anwesenheit als Schreibende in der Literatur: „Sich endlich über die eigenen Strategien und Trugschlüsse lustig machen, ohne der Angst anheimzufallen, man liefere dem Gegner nur wieder Argumente, eine Angst, die genauso schlimm ist wie Selbstzensur aus politischen Rücksichten. Denken, was nicht sein darf, und was nicht ist, erfinden! Endlich wieder Lust auf Zukunft haben, trotz aller Bedrohungen und Gefährdungen, auf eine wilde Zukunft, in der alles möglich ist.“

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Als „natural born Feministin“ ist es ihr gelungen, in ihrem vielfältigen Werk darüber zu schreiben, was möglich sein könnte. Das bedeutet aber auch genau hinzuschauen auf das, was heute ist und gestern war. Frischmuths Romane, Erzählungen, Essays, Hörund Fernsehspiele, Kinderbücher, Essays und – nicht zu vergessen – ihre literarischen Gartenbücher zeichnen sich gleichermaßen durch genaue Recherchen, stupendes Wissen und eine Vorliebe für das Karnevaleske und die Phantasie aus. Ihr Plädoyer für eine Literatur des Traums ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Aufklärung. Und dazu zählt eben auch zu „denken, was nicht sein darf“ und Grenzen zu überschreiten.

Die Anfänge

Erste Gedichte erscheinen 1962 in der Zeitschrift manuskripte, da studiert sie noch Türkisch und Ungarisch am Dolmetsch-Institut in Graz und hat 1960 als erste Europäerin ein Stipendium an der Universität Erzurum in Anatolien absolviert. In ihrer Abwesenheit wird sie in Graz Gründungsmitglied der „Grazer Gruppe“ im Umkreis des Forum Stadtpark und bleibt als einzige Autorin in der Männerrunde eine Ausnahmeerscheinung. 1964 übersiedelt sie nach Wien und beginnt ein Studium der Orientalistik. 1967 liest sie bei der Österreichischen Jugendkulturwoche in Innsbruck aus Vorarbeiten zum Buch „Die Klosterschule“, mit dem sie 1968 im Suhrkamp Verlag debütiert.

Als Frischmuth einen Übersetzungsauftrag für den Rowohlt Verlag bekommt, riskiert sie einen Wechsel von der Wissenschaft in den Literaturbetrieb. Dass sie ihre wissenschaftliche Neugier beibehalten hat, kann man zum Beispiel in „Der unwiderstehliche Garten. Eine Beziehungsgeschichte“ oder auch in ihren aktuellen Vorlesungen „Natur und die Versuche, ihr mit Sprache beizukommen“ nachlesen. Ihre geplante Dissertation über den Bektaschi-Orden beendet sie nicht, dafür erscheint einige Jahre später ihr Roman „Das Verschwinden des Schattens in der Sonne“, in dem sie ihre erste Begegnung mit der türkischen Kultur und Gesellschaft literarisch gestaltet.

Barbara Frischmuth erzählt, dass sie schon in ihrer Kindheit fasziniert war von „Tausendundeine Nacht“ und dass dies die Wahl ihres Studiums beeinflusst habe. Die Begrenzung ihrer Kindheitslandschaft Altaussee durch hohe Berge habe in ihr den Wunsch entstehen lassen, möglichst weit weg zu gehen. Und weil sie in Graz nicht Arabisch studieren konnte, wählte sie ganz pragmatisch eben Türkisch. Dass sie auch nach umfangreichen Recherchen im abendländischen Kanon der Literatur keine vergleichbare Frauenfigur wie Scheherazade entdecken konnte, bedauert die Autorin bis heute.

Frischmuth ist eine der wenigen abendländischen Schriftstellerinnen und Intellektuellen, die sich um eine Vermittlung zwischen Orient und Okzident bemühen, eine Arbeit, die in Europa gerne den „Migranten der Literatur“ überlassen wird. Frischmuth ist überzeugt, dass Literatur einen Blickwechsel ermöglichen kann. Dass ihr beeindruckender Roman „Das Verschwinden des Schattens in der Sonne“ nach fast fünfzig Jahren hochaktuell ist, kann man bewundern oder bedauern und sich an einen Satz von Frischmuth erinnern: „Nicht das Aufeinandertreffen von Eigenem und Fremdem ist zu verhindern, sondern der Versuch ihrer gegenseitigen Auslöschung.“

Das Eigene und das Fremde

Die „Asylanten der Literatur“ – so der Untertitel ihrer Salzburger Festspielrede „Das Heimliche und das Unheimliche“ – sind Übersetzer und Grenzgänger, denn sie bewegen sich zwischen Sprachen und Kulturen und „werden immer das Eigene mit dem Blick des Fremden und das Fremde mit dem Blick fürs Eigene ansehen“. Für Frischmuth verkörpern sie deshalb das, was sie als „gegenseitige kulturelle Wahrnehmung bezeichnen möchte, ohne die auf Dauer kein Zusammenleben möglich ist.“

Diese Spannung zwischen Eigenem und Anderem thematisiert Frischmuth nicht nur im Gegensatz zwischen Okzident und Orient, sondern auch innerhalb der jeweiligen Kulturen und Religionen, etwa am Beispiel der Religionsgemeinschaft der Aleviten, in der Männer und Frauen gleichberechtigt sind und die sich öffentlich lange nicht zu ihrer Religion bekennen durften. Zentrales Anliegen Frischmuths ist es, den Blick auf die Vielfalt des Islams zu lenken und den Orient nicht nur über die Religion zu definieren.

In der abendländischen Kultur richtet Frischmuth ebenfalls ihren Blick auf die Nachtseiten, auf Verborgenes, Unheimliches, Verdrängtes, das allzu oft mit dem Weiblichen verbunden ist. In ihrer Sternwieser-Trilogie setzt sie sich mit mündlichen Erzähltraditionen auseinander, in ihrer Demeter-Trilogie interpretiert sie Mythen aus einer weiblichen Perspektive und verweist beharrlich auf ausgegrenzte Diskurse.

Ihre Werke zeichnen sich durch genaue Recherchen, stupendes Wissen und eine Vorliebe für das Karnevaleske und die Phantasie aus.

Schon in ihrem Debüt „Die Klosterschule“ gestaltet Frischmuth sprachlich den Konflikt zwischen einer hermetisch geschlossenen Welt innerhalb eines katholischen Mädcheninternats und der scheinbaren Freiheit der Außenwelt. Die Sprachregelungen fördern nicht das selbständige Denken und Erwachsenwerden, sondern die Einübung in traditionelle Rollenmuster. Sie zeigt aber auch, wie die Sprache der Mädchen Widerstand leistet. Ihre eigenen Erfahrungen sind im Buch zu einer exemplarischen Analyse verdichtet. Von ihren sprachexperimentellen Anfängen wendet sie sich in den folgenden Jahren ab.

Dass mit dem Verlassen der Klosterschule ihre eigene Kindheit endet, erfahren wir erst bei der Lektüre ihres 2019 erschienenen Bestsellers „Verschüttete Milch“. Der Roman hat einen autobiografischen Kern, aber Frischmuth erzählt ihn nicht aus der Ich-Perspektive, sondern erfindet sich eine Figur, die als Kind Juli und als Erwachsene Juliane heißt. Die Erzählerin weiß: „Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, der Erinnerung, wenn man so will, ist keine zuverlässige Gefährtin.“ Fotos locken immer wieder Erinnerungen an die Familiengeschichte hervor, aber es bleiben auch Leerstellen, dunkle Flecken und Lebenslügen, über die geschwiegen wurde. Die Mutter führte bis in die 1950er Jahre ein Hotel in Altaussee, einem Ort, in dem die Weltgeschichte Station machte. Die Sommerfrische war für Juden und Nazibonzen gleichermaßen attraktiv, unter die einheimischen nationalsozialistischen Parteigänger mischten sich vereinzelte Widerstandskämpfer.

Barbara Frischmuth überrascht immer wieder durch die vitale Schilderung beeindruckender Frauenfiguren. Raffiniert lässt sie in ihrem Roman „Der Sommer, in dem Anna verschwunden war“ aus verschiedenen Stimmen ein lebendiges Bild der Verschwundenen erstehen. Anna hat Ali, ihren alevitischen Mann türkischer Herkunft, und ihre beiden Kinder verlassen, sie wird am Ende des Sommers zurückkehren, ob sie bleiben wird, bleibt offen. Frischmuth erzählt keine Geschichte, sondern bietet Themen zur Reflexion an: Was geschieht, wenn eine Gesellschaft Menschen ausgrenzt, weil sie anders sind? Was geschieht, wenn Einzelne sich selbst ausgrenzen? Der Roman ist ein Plädoyer für die Verschiedenheit und die Suche nach dem Fremden in uns selbst und eine Absage an die Aneignung des Fremden.

Frei von Sentimentalitäten

In ihrem Roman „Woher wir kommen“ erzählt sie die Geschichten dreier Frauen einer Familie, die mehrere Generationen und rund 75 Jahre umfasst. Die Schauplätze sind Altaussee, Istanbul und Wien, wobei das heimliche Zentrum doch das Seehaus in Altaussee zu sein scheint. Die Familiengeschichte spannt einen Bogen von der nationalsozialistischen Vergangenheit des Salzkammerguts bis zum Umgang der Türkei mit den Kurden. So verschieden die Lebensläufe der drei Frauen sind, so zentral bestimmt die Erfahrung des Liebesverlusts alle drei Biografien, das heißt konkret, des Verlusts des geliebten Mannes, durch politische Gründe, durch Selbstmord, durch einen Unfall. Auf unterschiedliche Weise gelingt es den Frauen wieder Mut zum Leben zu fassen.

Barbara Frischmuth erlaubt sich keine Sentimentalitäten, sondern begreift ihre Erfahrungen als Lebensmöglichkeiten, die sie in der Realität oder in ihrer Literatur ausleben kann. Auch in ihrem jüngsten Erzählband „Dein Schatten tanzt in der Küche“ erzählt sie Geschichten von fünf Frauen in prekären Verhältnissen. In der Titelgeschichte erzählt sie von einer Migrantin aus Syrien, deren Geliebter auf der Flucht übers Mittelmeer ertrunken ist, weil er nicht schwimmen kann. Sie ist traumatisiert und spricht zwar ihre Muttersprache Englisch, aber Arabisch, die Sprache ihres Vaters, hat sie ebenso vergessen wie den Namen ihres Geliebten. Die Erinnerung kommt erst wieder, als sie erfährt, dass sie der Geliebte belogen hat. Altersarmut und Einsamkeit, Flucht und Migrationserfahrungen, Patchwork-Familienprobleme werden thematisiert und obwohl die Geschichten fast alle dramatisch enden, porträtiert Frischmuth starke und unabhängige Frauen, die trotz Niederlagen um ihr selbstbestimmtes Leben kämpfen.

Am 5. Juli feiert Barbara Frischmuth, die seit 25 Jahren wieder in ihrem Geburtsort Altaussee lebt, ihren 80. Geburtstag. In ihrer Münchner Poetikvorlesung heißt es: „Es kann nicht mehr davon die Rede sein, und schon gar nicht in der Literatur und in dem, was ich als weiblichen Traum bezeichnet habe, die Welt zu erobern, sondern es geht darum, sie zu sehen, um sie möglicherweise auf diese Art, nämlich als Ansicht zu gewinnen.“ Beim Lesen ihrer Bücher lässt sich auf wunderbare Weise Welt und Lust auf eine „wilde Zukunft“ gewinnen.

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