Die Welt zum Bild formen

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Barbara Frischmuth entwirft ein interessantes Arrangement von entwurzelter altorientalischer Kultur, liberaler islamischer Geistigkeit der Aleviten und aktueller Zeitdiagnose.

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Barbara Frischmuth entwirft ein interessantes Arrangement von entwurzelter altorientalischer Kultur, liberaler islamischer Geistigkeit der Aleviten und aktueller Zeitdiagnose.

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Komm mit mir mein Kind, dann belebe ich dir die Welt mit meinem Hauch." Der Derwisch sprach's und tat's. Ein Traum, ein Märchen? Ja, das Imaginäre läßt zuweilen "das Gewicht der Dinge erahnen". Anna Margotti, Hauptfigur in Barbara Frischmuths neuem Roman "Die Schrift des Freundes", taucht ein in ein geheimnisvolles Sein: vielleicht nur ein Vexierbild oder eine "Augentrübung". Doch langsam dringen fremde Fäden in ihren Alltag ein.

Wieder einmal entwirrt die Autorin ein Stück kulturellen Dickichts der orientalischen Welt, abseits des fliegenden Teppichs und aktualisierter Mythenszenerie. Treffpunkt ist die soziokulturelle Enklave "Klein-Istanbul" von Wien, das Türkenviertel, seine Cafes, der Naschmarkt. Daneben geht es flugs hinein in die Verästelungen des Islams, fernab der Fundamentalisten in die Seitenwege des Alevismus. Er wird hier sogar thematischer Herzschlag in Sachen Morgenland. Frischmuth schiebt raffiniert eine Kultur ins Visier, die ihr Schreiben schon lange begleitet. Der pulsierende türkische Alltag, verwoben mit der Spurensuche nach Bektaschis und Aleviten, steckte bereits im Roman "Das Verschwinden des Schattens in der Sonne" die inhaltliche Kulisse ab.

Diesmal verzahnt sie die Story mit dem Aggressionspotential gegen Fremde. Eine Dekodierung "mafioser Strukturen" ist angesagt. Gerastert wird mit modernen Methoden. Computerfachleute vernetzen Informationen, die es möglich machen, "Allianzen" ethnischer Gruppierungen zu überwachen. Ein wahrhaft lodernder Boden, den Frischmuth hier aufzuschürfen wagt. Tragische Inhumanität hält der Ordnung den Steigbügel: "Jeder, der nicht hierhergehört, soll in sein Land zurückgeschickt werden." Erschreckend tönen Erinnerungen an schon Dagewesenes. Die Autorin faßt heißes Eisen an, wenn auch manches nicht ganz so einfach über einen Kamm geschoren werden kann.

Anna bereitet für eine Computerfirma solche geheimen Daten auf. "Potentielle Eiterherde unter den Migranten" sichtbar zu machen, lautet die Devise. Natürlich legal, denn alles geschieht im Auftrag des Innenministeriums. Daneben die obligate Liaison: Anna und ein älterer Ministerialrat, der zugleich als Auftraggeber fungiert. Im zarten Alter von 23 Jahren schreit es in Anna klar nach Turbo: mit Haugsdorff, dem Biedermeier-Miniaturen-Sammler und Verbalerotiker, hat sie sich gesetzteren Ritualen verschrieben. Zeit für Hikmet - Frucht geheimer "Sehnsuchtsviren"? "Ihr Herz hat einen Riesensprung gemacht und läßt sie schutzlos zurück, so als wäre sie aus sich herausgefallen und müsse sich nun mit aller Kraft in sich zurückholen". Nichts ist mehr wie früher. Dieser Türke, ein Alevit, erlernt die Kunst der Kalligraphie, eine symbolische Landnahme der eigenen Wurzeln. Anna steht vor dem Abgrund völligen Neulands. Daneben die schwelenden Probleme türkischer Landsleute: "Zu Hause und doch nicht in unserem Land. Mitten unter euch und dennoch in einer Enklave." Leider wird das Gefühl doppelter Heimatlosigkeit, der Stachel des gärenden Identitätsschnitts, nur angerissen und im Vagen gelassen.

"Wer ist Hikmet? Ein Stein vor ihrer Tür? Ein Schatten, der ihre Sinne trübt?" Erst nach seinem Untertauchen wird Anna klar, wie wenig sie über ihn weiß. Ihr Einschleichen in das verborgene Leben bringt ihn ohne ihr Wissen in Gefahr.

"Es ist ein Roman der Möglichkeitsform" sagt Frischmuth. Der Text verrät ihre profunde Kenntnis der geistigen Grundlagen türkischer Lebenskultur, der unmißverständlich ihr Herz gehört. Sidesteps in den Alevismus und in die traditionsreiche Kunst des Schreibens rücken die orientalische Spiritualität in ein vielschichtiges Licht, entblättern ein interessantes Reservoir alter Werte und Riten. Auf diesem Terrain ist die Autorin zu Hause: Studium, Übersetzertätigkeit und Auslandsaufenthalte liefern genügend Stoff.

Über die unerfahrene Optik Annas, die all das Fremde aufsaugt und verschlingt, erreicht Frischmuth subtil eine Korrektur der Werthaltungen, provoziert die Entwicklung von Sensibilität. Souverän beherrscht sie die Register im Gleiten zwischen Sein und Schein. Realitäten, Personen verschwimmen, lösen sich auf, verstricken sich in Undurchschaubarkeit. Bildreich tönt ihr lebendiges Erzählen quasi als flirrende Durchleuchtung einer anderen Welt. Das trifft besonders zu, wenn es um die Beschreibung alter Menschen und lukullischer Genüsse geht.

Frischmuth leiht einer Minderheit ihre Stimme. Das Buch ein Plädoyer? Wohl eher ein selbstbewußtes Stück Ethnokost mit all den dazugehörigen Verbrüderungen, kriminellen Verirrungen und Irritationen. Sozialpolitischer Zündstoff läßt den Roman aber auch zu einer feinbitteren Zeitdiagnose werden. Es heißt: "In der Schrift aber ist die Welt enthalten. Wer sie zu Bildern gestaltet, formt sie." Frischmuth hat es in ihrem neuen, sehr empfehlenswerten Buch phantasievoll bewiesen.

Die Schrift des Freundes Roman von Barbara Frischmuth, Residenz Verlag, Salzburg 1998, 352 Seiten, geb., öS 348,-

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