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Geschichte einer Berufung

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DAS BRENNENDE WORT. Roman. Von Flannery O'C o n n o r. Carl-Hanser-Verlag, München, 1962. 200 Seiten. Preis 13.80 DM.

In den letzten Jahren machten junge Erzähler aus den amerikanischen Südstaaten von sich reden, unter denen Flannery O'Connor zu den begabtesten und faszinierendsten gehört. Im deutschen Sprachbereich wurde sie zunächst durch den Erzählband „Ein Kreis im Feuer“ bekannt. Einfache Geschichten, ohne jedes überflüssige Beiwerk, aber kraftvoll im Ausdruck, stark in der Atmosphäre. Das Schwergewicht liegt bei Flannery O'Connor nicht in der äußeren Handlung.

Der Roman „Das brennende Wort“ ist ein neuer Beweis der großen Begabung der Autorin. Mit sensiblem Einfühlungsvermögen erzählt 6ie die Geschichte der Berufung des vierzehnjährigen Jungen

Francis Marion Tarwater, der bei seinem Großonkel, abgeschnitten von der Welt, in der Einsamkeit der „Hinterwälder“ aufwächst. Der eigenwillige, kauzige Alte, der sich selbst für einen Propheten hält, will in dem Kind seinen Nachfolger heranziehen, der sein unvollkommenes Werk vollenden soll. So störrisch und aufsässig der Junge dem Alten begegnet, er lebt doch ganz in dessen Vorstellungen, trotz seines Aufbegehrens immer den Ruf des Herrn erwartend. Und gerade in der Begegnung mit dem Schulmeister Rayber — einem anderen Neffen des Alten, dem es, trotz der Flucht in ein ganz und gar der Vernunft bestimmtes Leben, nie völlig gelungen ist, das religiöse Erbe seines Onkels

über Bord zu werfen — erfährt der Junge nach dem Tod des Alten die Unmöglichkeit, 6einem Schicksal zu entgehen. Sein Weg führt ihn über schuldhafte Verstrickungen — bei der ihm von seinem Onkel aufgetragenen Taufe des schwachsinnigen Sohnes des Schulmeisters ertränkt er das Kind — unaufhaltsam seiner Bestimmung zu, die er nicht wahrhaben will, und auf die er zugleich doch immer wartet. Noch einmal in die Einöde zurückgekehrt, wo er für immer zu bleiben beschließt, hat der Junge die Vision von der Speisung der Fünftausend. „Endlich erkannte er den Gegenstand seines Hungers, erkannte aber auch, daß sein Hunger und der des alten Mannes der gleiche waren und daß nichts auf Erden ihn stillen würde ...“ Und der Junge, der nach dem

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Tod seines Onkels in die Stadt zog, um sich zu beweisen, daß er kein Prophet 6ei, macht sich nun auf, um sein Schicksal in der Welt zu erfüllen.

Flannery O'Connor erzählt diese Geschichte einer Besessenheit, in der sich Visionäres mit Spekulativem und Zwang mit Verführung mischt, meisterhaft und ohne Bruch. In ihrem Realismus ist eine magische Komponente; die Welt, wie sie sie schildert, gewinnt ihre eigentliche Wirklichkeit durch das Hineinwirken metaphysischer Kräfte. Nicht der junge Tar-water, der als Sieger zum Besiegten des lebendigen Gottes wird, ist der wirklich Unterlegene, sondern der im Rationalismus und Atheismus befangene Schulmeister. Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen.

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