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Ein Erlebnisbuch

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Die Erinnerungen des Wiener Vizebürgermeisters Lois Weinberger, die in Kürze in Buchform erscheinen werden, umschließen ein Erleben voll der Gefahren und der höchsten Spannungen. Im Erzählerton gehalten, wirken diese Rückblicke durch ihren ungeschminkten Realismus. Mit besonderer Aufmerksamkeit wird der Leser darin die Abschnitte suchen, die der Widerstandszeit, dieser Zeit der Erprobung der Tapfersten, gewidmet sind. Hier zeigt sich auch die Spannweite der österreichischen „Resistance”. Denn Weinberger stand nicht nur mitten im österreichischen Untergrundkreis, sondern auch mit den bedeutendsten deutschen Widerstandsführern, wie Dr. Karl Gördeler, Jakob Kaiser und Wilhelm Leuschner, in Fühlung. „Langsam, ruhig, aber betont und eindringlich” zeigte ich im Gespräch Jakob Kaiser, der als Mann von , „klarem Verstand und fast unheimlicher Klugheit” geschildert wird. Jakob Kaiser war es, der Weinberger mit dem deutschen Sozialdemokraten Leuschner bekannt machte. „Sie werden sich mit ihm gut verstehen”, meinte Kaiser, „und er wird mit Ihnen lieber sprechen als mit anderen, von denen er kaum etwas weiß und die hier immer eine ganz andere Haltung eingenommen habe® als unsere ehemaligen Sozialdemokraten.” Die Begegnung mit Leuschner fand statt und Kaiser hatte sich nicht geirrt. Der deutsche Sozialdemokrat, der nach dem Sturze Hitlers zum Vizekanzler ausersehen war und der österreichische christliche Gewerkschaftsführer verstanden sich. „Wir alle”, sagte Leuschner zu Weinberger, ,.müssen aus den Erfahrungen von früher und jetzt lernen, und wir müsssen alles vernünftiger und besser machen wie dazumal und dürfen begangene Fehler und Dummheiten nicht mehr wiederholen.” Leuschner fragte dann plötzlich: „Wie stehen Sie zur katholischen Kirche? Auch in dieser Beziehung müssen wir ganz anders vorgehen. Die Dummheit, die Sache der Kirche und der Arbeiterschaft voneinander zu trennen oder sie gar gegeneinander auszuspielen, darf sich nicht wiederholen. Inzwischen ist das Vertrauen der breiten Volksmassen besonders zur katholischen Kirche stark geworden. Darauf werden wir schon aus Vernunftsgründen Rücksicht nehmen müssen, aber auch sonst werden wir die großen Werte der Religion und eines lebendigen Glaubens mit einbauen. Ich habe mit Jakob Kaiser ausgemacht, daß wir überall, wo die katholische Bevölkerung in der Mehrheit ist, auch katholische Arbeitervertreter herausstellen.” Mit Trauer verzeichnet Weinberger, daß Leuschner, dieser einsichtsvolle, tapfere Mann, wie Gördeler einem furchtbaren Schicksal verfallen, Opfer seiner Gesinnung geworden ist.

Diese Berichte des persönlichen Erlebens aus denen uns einige Kapitel zur Einsicht vorlagen, bilden den besonderen Reiz der Erinnerungen; sie werden eine wichtige Zeugenschaft aus jener schicksalsschweren Zeit darstellen. Ohne Pathos eine Aussage über heroische Geschichte.

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