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Antike in neuer Sicht

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Der Verein der Freunde des humanistischen Gymnasiums veranstaltete im Auditorium maximum der Universität Wien eine Leseaufführung der „Medea” von Jean Anouilh. Univ.-Prof. Dr. Albin Lesky umriß in seiner kurzen, prägnanten Einleitung den Gestaltwandel dieser halb göttlichen, halb menschlichen Heroine. War die Tragödie des Äschylos noch ein ständiges Gespräch zwischen Mensch und Gott, so verlegte Euripides, an der entscheidenden Wende des griechischen und darüber hinaus des abendländischen Dramas, die beiden Pole des unaufhebbaren tragischen Gegensatzes in die menschliche Seele. Euripides hat Medea entmythologi- siert. In ihrer Person tritt das weibliche Geschlecht „als Naturgewalt, als Element, als richtende Macht” (Karl Kerėnyi) auf. Zauberei und die Verfertigung tödlicher Geschenke dienen nur zur „notdürftigen Ausschmückung” dieses weiblichen Urwesens. Euripides hat als erster der Tragödie den Bereich des Eros erschlossen, aber nicht als sanfte, beglückende Kraft, sondern als dämonische Gewalt, Grillparzer zeichnete menschlichere Züge in das gigantische Bildnis des Euripides ein. „Bestimmbare Umwelt, erlebte Anlage, psychische Entwicklung, die drei großen Gesichtspunkte der bürgerlichen Epoche und ihrer Pathologie” (C. J. Burckhardt) werden geltend gemacht, um das Werden und den Unterschied zwischen Kolchis und Griechenland zu erklären und herauszuheben.

Anouilh hat in der Neuformung des Dramas denselben Griff getan wie bei seiner „Antigone”. Er machte eine Gestalt zur Achse und drehte alles um 180 Grad. Jason ist bei Euripides ein feiger Schuft, der Medea, die ihn aus Todesgefahr errettet hat, um einer besseren Hochzeit willen verläßt. Bei Anouilh dagegen pocht Jason, mehr noch als bei Grillparzer, darauf, daß er die „Sauvage”, die Wilde, aus dem barbarischen Kolchis in eine neue Welt, in ein Land der Kultur gebracht habe. Er verläßt Medea, damit „die Welt, dieses Chaos”, in das ihn Medea geführt hat, endlich die feste Form einer „nach menschlichen Maßen befriedeten Welt” annehme, in deren „Ordnung” er sich fügen möchte. „Am Ende ist es nur das — und nichts anderes— ein Mann zu sein”.

Eine Leseaufführung zeigt besonders deutlich, wie in Anouilhs psychologischer Analyse mit den monologischen und dialogischen Mitteln der Szene (der der antike Stoff im Grunde nur Vorwand ist) Jason und Medea zu Stichwortträgern einer (existential)-philosophischen Wechselrede geworden sind: Der nach zehnjähriger Ehe mit der „Barbarin” zu lateinischer Vernunft, zu Ordnung und Maß zurückstrebende Mann steht dem Weib gegenüber, das seiner Gefühls- und Triebwelt furien- haft treu bleibt — bis zum Mord an den eigenen Kindern, bis zum Freitod. Medeas So-und-nicht-anders- Sein wird ihr zum Schicksal. Die Gestalt tritt endgültig aus der mythologischen Geschichte heraus und wird bei Anouilh zur Tragödie eines menschlichen Wesens.

Die Lesung besorgten die Mitglieder des Burgtheaters Erika Pluhar (Medea),’ Wolfgang Gasser (Jason), Fred Liewer (Kreon) sowie Bibiane Zeller (Amme) und die Herren Reiner und Feilerer in kleineren Rollen. Allein auf Wort und sparsame Gebärde gestellt, verlieh vor allem Erika Pluhar der Medea echte Faszination. Die zumeist jugendlichen und sichtlich gefesselten Zuhörer, die das Auditorium maximum bis auf den letzten Platz füllten, drückten mit ihrem lebhaften Beifall ihren Dank und ihre Ergriffenheit aus.

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