Der „Nestor" der Soziallehre Roms
Kirche und Arbeiterschaft auf der Basis ökonomischen Sachverstandes zu versöhnen, ist seit 1930-das Anliegen des Mannes, dessen Handschrift die Enzyklika „Quadragesimo anno" trägt
Kirche und Arbeiterschaft auf der Basis ökonomischen Sachverstandes zu versöhnen, ist seit 1930-das Anliegen des Mannes, dessen Handschrift die Enzyklika „Quadragesimo anno" trägt
Ein Papst kehrte zurück: Ein Augenzeuge hat es berichtet: Als Johannes Paul II. 1980 Deutschland besuchte, wurden ihm bei einem Empfang bedeutende Persönlichkeiten vorgestellt. Man hatte dazu auch P. Oswald von Nell-Breuning eingeladen. Wie immer, hatte er auch diesmal ein Privatauto abgelehnt und war mit der Bahn gekommen. Als der Papst schnell von Mann zu Mann ging, kam er auch zu Nell-Breuning. Sein Name wurde genannt, der Papst gab ihm flüchtig die Hand und war schonbeim Nächsten. Plötzlich blieb Johannes Paul II. stehen, kehrte zu Nell-Breuning zurück, gab ihm noch einmal die Hand und sagte: „Sie haben für die Soziallehre der Kirche sehr viel getan. Ich danke Ihnen."
Die Rückkehr des Papstes kann durchaus auch symbolhaft gedeutet werden: Man wird noch viele Jahre zu P. von Nell-Breuning zurückkehren. Man wird ihn als Autorität zitieren, man wird sich mit ihm kritisch auseinandersetzen, man wird ihn vermissen. Es ist in einem kurzen Beitrag nicht möglich, das reiche sozialwissenschaftliche Werk Neil-Breunings entsprechend zu würdigen. Vielleicht kann an zwei Grundanliegen, die ihn ein Leben lang beschäftigten, etwas von seinem Charakter aber auch von seinem bleibenden Verdienst aufgezeigt werden.
Ein Auftrag aus dem Vatikan: Als 1930 der Jesuitengeneral Ledo-chowski dem damals 40jährigen den Wunsch des Papstes Pius XI. mitteilte, einen Entwurf für eine neue Sozialenzyklika auszuarbeiten, war sich P. von Nell-Breuning der Bedeutung, aber auch der Schwere des Auftrags voll bewußt. Vor knapp 40 Jahren hatte Leo XIII. in seiner ersten Sozialenzyklika über die Arbeiterfrage die drohende soziale Katastrophe richtig eingeschätzt: Wenn es nicht gelang, die neu entstandene Großgruppe der Industriearbeiter in die Gesellschaft einzugliedern, war der Klassenkampf und in der Folge der gesellschaftliche Umsturz nicht mehr aufzuhalten.
40 Jahre später sah Pius XL, daß dieses Ziel keineswegs erreicht war. Im Gegenteil, die Klassengesellschaft hatte sich voll durchgesetzt und in Rußland war die Diktatur des Proletariates bereits eine Wirklichkeit. Pius XI. wußte um diese Wirklichkeit, und er wußte ebenso um die drohende Gefahr des Faschismus, der auf seine Weise die Diktatur anstrebte. Darum erging der dringende Auftrag des Papstes an Nell-Breuning, und dieser staunte später selber, mit welcher Kühnheit er sich an die Arbeit gemacht hatte.
Auf Seiten der Arbeiterschaft: Es ist hier nicht möglich, aber auch nicht notwendig, im einzelnen aufzuzeigen, wie sich P. von Nell-Breuning in der dann 1931 erschienenen Sozialenzyklika „Quadragesimo anno" die Lösung der sozialen Frage vorgestellt hat. Wichtiger erscheint die Feststellung, daß von diesem Zeitpunkt an die Frage der Eingliederung der Arbeiterschaft in Wirtschaft und Gesellschaft zu einem seiner Grundanliegen wurde.
Als man nach dem Zweiten Weltkrieg vor einer völlig neuen Situation stand, hielt Nell-Breuning unbeirrt an diesem Grundanliegen fest. Er verteidigte das Recht der Arbeitnehmer auf Mitbestimmung und trat für die Gewinnbeteiligung und die Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand ein. Immer war er über eines besorgt: Daß sich die so oft zitierte Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit nicht in bloßen Deklarationen erschöpfte und daß die Arbeitnehmerschaft dabei nicht an die Wand gedrückt wurde.
Mit gleicher Eindeutigkeit trat P. von Nell-Breuning aber auch gegen jeden Rückfall in die Klassenkampfideologie auf. Er wandte sich mit aller Schärfe gegen jeden Übergriff von seiten des Kapitals, aber ebenso entschieden gegen jeden Machtmißbrauch von seiten der Gewerkschaft. Nur Eingeweihte wissen, wie viel Nell-Breuning dazu beigetragen hat, daß es in den kritischen Jahren der Nachkriegszeit gelang, überholtes Klassenkampfdenken zu überwinden und den keineswegs leichten Weg in Richtung einer Partnerschaft zu beschreiten.
Konflikten nicht ausgewichen: Es war vorauszusehen, daß P. von Nell-Breuning in diesem seinen Bemühen auf Kritik und Widerstand stoßen würde. Auch innerhalb der Kirche. Er ist harten Auseinandersetzungen nie aus dem Weg gegangen. Man denke etwa an die Würzburger Synode, wo der von ihm erarbeitete Text mit einem Schuldbekenntnis der Kirche an die Arbeiterschaft nach heftigen Diskussionen angenommen wurde. Nell-Breuning ist sein Leben lang dem Auftrag treu geblieben, den ihm die Kirche 1930 gegeben hatte: Wege zu bauen, auf denen die Arbeitnehmerschaft den Zugang zur Gesellschaft, aber auch zur Kirche finden konnte.
Das Schwergewicht der Sachgründe: Es darf noch ein zweites Grundanliegen Neil-Breunings angeführt werden. Die erste Sozialenzyklika Leos XIII. über die Arbeiterfrage hatte noch sehr all-^ gemein von der Not des Proletariates und der Notwendigkeit sozialer Reformen gesprochen. P. von Nell-Breuning erkannte vom Anfang an, daß die sozialen Forderungen der Kirche nur dann Gehör finden würden, wenn sie in die Wirklichkeit der Industriewirtschaft und in die ihr eigene Begriffssprache hineingestellt werden.
In seinem Entwurf zur Sozialenzyklika Pius XI. spricht er daher nicht mehr ganz allgemein vom gerechten Lohn sondern gibt dabei gleichzeitig die ökonomischen und ethischen Kriterien an, nach denen er zu bemessen ist. Im gleichen Entwurf distanziert er sich bewußt vom simplifizierten Bild des Unternehmens „Arbeitgeber-Arbeitnehmer" und fügt als entscheidendes drittes Element die eigenständige Rolle des Unternehmers hinzu.
P. von Nell-Breuning hat immer darunter gelitten, wenn von einzelnen Katholiken, aber auch von Gruppen und Verbänden im Namen der katholischen Soziallehre Forderungen erhoben wurden, die nicht nur dem ökonomischen Sachverstand, sondern auch der Leist-barkeit ethischer Prinzipien widersprachen. Hier konnte er in der Kritik hart werden, weil er zutiefst davon überzeugt war, daß dadurch der katholischen Soziallehre Schaden zugefügt wurde.
Das Offentlichkeitsrecht der Soziallehre: In seinem geistigen Testament sagte P. von Nell-Breuning ein bedeutendes Wort, das ihn selber charakterisiert: „Wenn ich meinerseits nicht nur in Fragen der Mitbestimmung, sondern ganz allgemein, wenn es galt, mich für berechtigte Ansprüche oder Forderungen einzusetzen, immer seltener mich auf die Lehrautorität der Kirche bezog und das Schwergewicht mehr und mehr auf die Sachgründe gelegt habe, so nicht deshalb, weil ich die moralische Autorität der Kirche heute geringer einschätze als früher, sondern um diese Autorität nicht nutzlos dem entwürdigenden Interessengezänk auszusetzen."
Man könnte das auch so formulieren: Dadurch, daß Oswald von Nell-Breuning das Schwergewicht der Sachgründe mit der katholischen Soziallehre in Verbindung brachte, hat er dieser Soziallehre das Öffentlichkeitsrecht verschafft und damit der Kirche einen unübersehbaren Dienst erwiesen.
Der Autor ist Professor für Sozialethik an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.