6740581-1966_39_09.jpg
Digital In Arbeit

Soziallehre und Enzykliken

Werbung
Werbung
Werbung

Ein aus dem Niederländischen übersetztes Buch (Liederik de Witte: Kirche — Arbeit — Kapital, Lahn-Verlag, Limburg, 1964, Paperback, 180 Seiten, DM 6.80), das sich mit Fragen der katholischen Soziallehre befaßt und wegen seiner präzisen und vor allem von einschlägiger pädagogischer Erfahrung bestimmten Formulierungen sehr empfohlen werden kann, bildet den Anlaß zu einigen grundsätzlichen Erwägungen.

Der Versuch, lediglich aus den Texten der Sozialenzykliken eine katholische Soziallehre gleichsam zu deduzieren, führt nicht selten zu einer vor allem vom pädagogischen Standpunkt aus beklagenswerten mangelhaften Systematik in der Darstellung der Aussagen der Kirche zu den sozialen Erscheinungen. Jede Sozialenzyklika ist unter besonderen Pastoralen Aspekten konzipiert und reflektiert, soweit sie mit der Interpretation einzelner sozial belangreicher Fragen befaßt ist, historische und zuweilen sogar regional begrenzte Situationen. Wie sehr ist etwa der Text von „Quadragesimo anno“ von den regional-politischen Bedingungen bestimmt gewesen, unter denen um 1931 der Heilige Vater die Weltkirche verwalten mußte! Wie hätte etwa die Enzyklika formuliert werden können, wäre 1931 der Vatikan nicht von der Macht des Faschismus bedroht und zur verbalen Vorsicht gezwungen gewesen!

Man macht den Alt-Marxisten mit Recht den Vorwurf, daß sie Aussagen von Marx zu bestimmten historisch eingebundenen sozialökonomischen Fragen als absolut gültig klassifizieren. Dadurch zeigen sie sich geneigt, Entscheidungsmodelle zu entwerfen, die nicht mehr mit den Realitäten der Gegenwart abstimmbar und auf diese Weise Utopie sind.

In gleicher Weise wie jene Alt- Marxisten, die eine geschichtliche Erfahrung in der Schauweise von Marx absolut setzen, handeln katholische und nichtkatholische Interpreten bezüglich der Haltung der Kirche zu sozialen Fragen, wenn sie lediglich Sozialenzykliken als Grundlage benützen und deren Aussagen als für alle Situationen absolut verwertbar ansehen.

Der geschichtliche Wandel sozialer Fragen

Ehedem war die soziale Frage auf die Arbeiter in den Fabriken bezogen gewesen. Das soziale Elend in den Bauerndörfern und auf den Guthöfen wurde völlig übersehen, unter anderem wegen einer verständlichen Befangenheit einzelner Mitarbeiter des Papstes bei der Textierung der Enzykliken. Dazu kam noch, daß das Arbeiterelend die drastische Form des Nahrungselends hatte und eine Soforthilfe unvermeidbar schien. Der ungehemmt praktizierte Kapitalismus ist aber eine Periode in der Sozialgeschichte und der sogenannte Monopolkapitalismus, bereits verbunden mit expandierender Sozialpolitik, eine andere; daher müssen die Aussagen der Enzykliken etwa über die soziale Freiheit einen jeweils anderen Inhalt haben. Ausbeutung heute und Ausbeutung gestern haben andere Motive und Ausmaße, aber auch andere Objekte. Der Sozialismus in der Opposition und im Untergrund, da und dort konfrontiert mit einer noch auf feudale Sozialmodelle hin fixierten und besonders durch einen Agrarsozialismus provozierten

Kirche, ist anders zu beurteilen als etwa jener Sozialismus, der uns in der Gestalt der Labour-Party und der SPÖ (etwa bis zum Tod von Adolf Schärf) gegenübertritt.

Es war und ist nicht die Absicht der Autoren der Sozialenzykliken und des ein Placet gebenden jeweiligen Papstes, vermittels eines Lehrschreibens die Totale dessen zu formulieren, was die Kirche zum Phänomen des Sozialen, das für sie ein Moralisches ist, festzustellen hat. Lediglich die jeweils aktuellen Probleme werden pointierend-hervor- hebend behandelt und, wenn erforderlich, unter Hinweis auf die reinen Wahrheiten des Sittengesetzes auch klassifiziert. Stets aber sind aktuelle Situationen und nicht abgestorbene Ereignisse Gegenstand der Erläuterungen der Enzykliken.

Nur ein Problem von vielen

Wenn von katholischer Soziallehre die Rede ist, soll sie vom Stand punkt des Lehrens verstanden werden:

• als Darstellung des Sittengesetzes an Beispielen von sozialwirtschaftlicher Bedeutung und

• als Hinweis auf eine nichtige gesellschaftliche (zwischenmenschliche)

Ordnung angesichts einer an sich stets erkennbaren und in den Beispielen der jeweiligen Sozialenzyklika im besonderen ausgewiesenen Störung.

Das Insgesamt der sozial belangreichen Teile des Sittengesetzes soll dagegen — so glaube ich die pastorale Funktion der Sozialenzykliken zu verstehen — nicht dargestellt werden.

Daher ist es bedenklich, wenn man glaubt, aus den Enzykliken die katholische Soziallehre herausdestillieren und für alle Fragen, welche für den Prozeß der Selbstversorgung und der Ordnung der Gesellschaft von Belang sind, die Enzykliken allein zu Rate ziehen und zitieren zu können.

In dem eingangs erwähnten Buch wird nun in einer erfreulichen Offenheit auf die nicht immer zutreffende Soziallehre und den Thesen der Identifikation von katholischer Sozialenzykliken hingewiesen. Gerade die Konfrontation der Kirche mit dem Phänomen von Arbeit und Kapital, dargestellt an Hand der Texte der klassischen Sozialenzykliken, gibt dem Autor Gelegenheit, die Bedeutung der Enzykliken für die Lehre vom Sozialen in das richtige Licht zu setzen. In der Einführung zur deutschen Ausgabe (Prof. P. Doktor Nell-Breuning SJ.) wird am Beispiel der Diskussion um die Mitbestimmung darauf hingewiesen, daß sich etwa in Belgien und in der BRD die Fragen durchaus anders stellen und auch die Antworten andere sein müssen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung