Das kurze Pamphlet zum langen Abschied

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Grüne und Christentum vertragen sich nicht, hat Christian Moser behauptet (FURCHE Nr. 2). Ein katholischer Sozialethiker hält dagegen: Mosers reaktionäre Sozialreligion widerspricht der katholischen Soziallehre – von der sich die ÖVP, ihrer praktischen Politik entsprechend, offenbar nun auch theoretisch-programmatisch verabschieden will.

Als ich Herrn Mosers Beitrag über die Grünen und die Religion das erste Mal las, war mir nicht klar, welcher literarischen Gattung er zuzuordnen ist. Handelte es sich um Satire? Oder um ganz bewusste Polemik, von deren Inhalt sich der Autor insgeheim selbst distanziert, die er aber stilistisch einsetzt, um zu provozieren (was ihm ja offensichtlich gelungen ist)? Konnte ein Vordenker der ÖVP, der an der Neugestaltung ihres Grundsatzprogramms mitwirkt, ein solch peinliches Sammelsurium von Werturteilserschleichungen und Widersprüchen, von platter Denunziation und theologischem Halbwissen produzieren? Die Antwort lautet: Ja, natürlich, warum auch nicht? Spätestens seit der schwarz-blauen Regierungsbildung vor zehn Jahren geniert sich in der Volkspartei kaum noch jemand für rechtspopulistische Parolen und ideologische Pamphlete.

Erlösung und Befreiung

In besonders herablassender Weise echauffiert sich Moser über „die gnostische Irrlehre der Sozialreligion“, die soziale Gerechtigkeit statt individuellen Seelenheils predige. Diese habe nach dem Zweiten Vatikanum „die Entchristlichung der Kirche beschleunigt“ (sic!). Moser verschweigt wohlweislich, dass die gesamte kirchenamtliche Soziallehre, von „Rerum novarum“ (1891) bis „Caritas in veritate“ (2009), eine Form von Sozialreligion darstellt. In „Rerum novarum“ prangerte Leo XIII. eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung an, „in der wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein nahezu sklavisches Joch auferlegen“ (Nr. 2). In „Caritas in veritate“ forderte Benedikt XVI. die Umverteilung des Reichtums, die Beseitigung des Hungers, den Abbau der Arbeitslosigkeit, die Überprüfung des am Konsum orientierten Lebensstils und die globale Neuordnung des Finanzwesens.

Erlösung und Befreiung, Heil in Christus und die Überwindung von „Strukturen der Sünde“ (Johannes Paul II.) lassen sich aus theologischer Sicht zwar nicht rundweg gleichsetzen, sind aber eng miteinander verbunden. „Für uns sind der Einsatz für Gerechtigkeit und die Beteiligung an der Umgestaltung der Welt wesentlicher Bestandteil der Verkündigung der Frohen Botschaft“, stellte die Römische Bischofssynode von 1971 unmissverständlich fest (Nr. 6).

Nirgendwo allerdings wird in der katholischen Soziallehre ein bestimmter, in Zukunft zu erreichender gesellschaftlicher Zustand mit dem „Paradies auf Erden“ gleichgesetzt. Solche direkten Identifikationen finden sich auch bei den neueren politischen Theologien und im Grundsatzprogramm der österreichischen Grünen von 2001 nicht. „Wir stehen Versuchen, geschlossene Weltbilder anzubieten oder eine absolute Wahrheit zu verkünden, mit großer Skepsis gegenüber“, ist in der Präambel des grünen Programms zu lesen. Und der Begriff des „eschatologischen Vorbehalts“, mit dem Johann Baptist Metz, der Nestor der neueren politischen Theologie, auf die Vorläufigkeit (nicht die Beliebigkeit!) jedes geschichtlich erreichten Status der Gesellschaft verweist, gehört heute zum Gemeingut theologischen Wissens.

Traditionalistische Sozialreligion

In seinem Werk „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“ verweist Metz auf die reaktionäre politische Theologie des französischen Traditionalismus’ im 19. Jahrhundert. Im Gegensatz zum Ersten Vatikanischen Konzil bezweifelten die Traditionalisten die Erkenntniskraft der natürlichen Vernunft und beriefen sich dabei „immer wieder auf die schwächende Kraft der Erbsünde“. Nach Metz funktionalisierten die Traditionalisten dogmatische Gehalte der christlichen Religion, „um politische Vorstellungen und Systeme zu restituieren und die als unmündig empfundenen Massen beherrschbar zu halten (Erbsünde!)“.

Ähnlich geht Moser vor: Er biegt die katholische Erbsündenlehre, die nur von einer Neigung des Menschen zum Bösen (Konkupiszenz) spricht, nicht von seiner völligen Verdorbenheit (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 405), ins rein Negative um und instrumentalisiert diese (häretische!) Erbsündentheologie, um das christliche Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung herablassend zu denunzieren.

Jede Theologie hat gesellschaftspolitische Auswirkungen, gerade auch eine, die vorgibt, es gehe ihr ausschließlich um individuelles Seelenheil. Mosers theologisches Konstrukt ist alles andere als politisch unschuldig: Seine Spielart einer traditionalistischen, reaktionären, dystopischen (anti-utopischen; red.) Sozialreligion stützt die Herrschenden und die herrschenden Verhältnisse. Sie verspricht den Menschen den Himmel, nimmt ihnen aber die Erde.

Ebenso wie die Erbsünde muss auch die „menschliche Natur“ bei Moser dafür herhalten, um politische Emanzipationsbewegungen zu diffamieren. Auch das hat Tradition: Weiße Rassisten in den USA und in Südafrika verwiesen auf die angeblich defizitäre „Natur des Negers“, um Schwarze weiterhin unterdrücken zu können, deutsche Theologen und Bischöfe haben sich in den 1950er Jahren auf die „natürlichen Wesenseigenschaften von Mann und Frau“ berufen, um die rechtliche Vorrangstellung der Männer in Ehe und Familie zu legitimieren und aufrecht zu erhalten.

Im Jahre 1964 wies allerdings ein junger Theologieprofessor darauf hin, dass es bei der Berufung auf das Naturrecht „auch so etwas wie ideologische Momente gibt, das heißt Gedankengänge, die nur scheinbar naturrechtlich oder theologisch sind, in Wirklichkeit aus einer als ‚natürlich‘ empfundenen geschichtlichen Sozialstruktur kommen, die so unter der Hand als normativ erklärt wird“. Dieser Theologe hieß Joseph Ratzinger.

Progressive Soziallehre

Bereits im Jahre 1971 erklärte der Publizist Peter Diem, dass sich die ÖVP bequemen werde müssen, die Progressivität der kirchlichen Soziallehre nachzuvollziehen, wolle sie engagierte Katholiken als Wähler behalten. Trotz seines Lippenbekenntnisses zu den Werten der Personalität, Solidarität und Subsidiarität beweist Mosers politische Philosophie anschaulich, dass Diems Forderung 39 Jahre später nicht annähernd erfüllt wurde. Ganz im Gegenteil: Mosers Beitrag stellt klar, dass ein beträchtlicher und einflussreicher Teil der Volkspartei sich nach und nach auch theoretisch und programmatisch von der katholischen Soziallehre verabschiedet hat. Was die konkrete, praktische Tagespolitik der Volkspartei betrifft, ist dies ohnehin schon seit Langem offensichtlich.

* Der Autor ist ao. Universitätsprofessor für Ethik und christliche Gesellschaftslehre in Graz und Vizepräsident von Pax Christi Österreich

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