6682949-1962_01_11.jpg
Digital In Arbeit

Die Gesellschaftslehre der Kirche

Werbung
Werbung
Werbung

PERSONALISMUS, SOLIDARISMUS UND GESELLSCHAFT. Von Georg Wildmann. Verlag Herder, Wien, 1961. 244 Seiten. Preis 98 S.

In Auseinandersetzung mit dem inner-katholischen Sozialethizismus von Utz unc Verpaalen entwickelt der Autor — eir Schüler von Gundlach — die Grundgedanken der sozialontologischen Richtung ir der katholischen Sozialphilosophie.

Das keineswegs leicht zu lesende unc mit einer Fülle von Belegverweisen ausgestattete Buch liegt auf der Linie dei innerkatholischen Versuche, einerseits die Begriffsklärung im Bereich der katholischen Sozialphilosophie zu fördern und anderseits das Substanzlose wesentlichei Begriffsformeln herauszustellen. Darübei hinaus ist der Verfasser bemüht, in die Vielfalt der literarischen katholischen Äußerungen zum Komplex des Sozialen eir System hineinzulegen.

Der Ethizismus, der im Personalismus lediglich das Naturrecht der konkreter Situation sieht, glaubt — nach Ansicht des Verfassers — in den Aussagen der Päpste zu sozialen Fragen nur den Versuch einei Perfektionierung und einer pastoralen Reduktion der für alle Zeiten gültigen Lehren des heiligen Thomas zu sehen. Anders die Sozialtheologie, wie sie Pius XII. vertreten hat. In ihr ist die Person, weil Ausgang allen sozialen Geschehens, in der Mittelpunkt gestellt und wird darüber hinaus auf das Wesen der Dinge verwiesen, Die Wahrheit der Dinge wird dabei nicht in fortgesetzter Interpretation der Lehren des heiligen Thomas, sondern unter Be-dachtnahme auf die Wirklichkeit dargestellt.

Das, was man katholische Soziallehr nennt, erfährt ihre systematische Darstellung wie ihre Unterscheidung von anderen Systemen im Personalismus, der die Person in die Mitte der sozialphilosophischen Diskussion stellt. Was die Person in der Gesellschaft und durch ihre Glieder erfährt, ist die Basis für die Klassifikation der Verfahrensweisen in der Gesellschaft, etwa der Sozialpolitik. Die Gesellschaft kann nur als in der Person begründet verstanden werden. Individualismus und Kollektivismus als das klassische Gegensatzpaar im Rahmen der sozialphilosophischen Diskussion sind in ihrem Gewicht aufgehoben. Das Kollektiv ist nicht um des Individuums als Teil seines Verbandes, und das Individuum ist nicht für sich allein da. Jedes Verhältnis von Einzelperson und Gemeinschaft ist im letzten auf die Person bezogen. Im neuen Solidarismus (als einem Sozialsystem) wird jedenfalls die Person zum Gegenstand der Sorge. Es gibt kein Entweder-Oder von Einzelwohl und Gemeinwohl, da dieses (wie auch die Gemeinschaft, die dem einzelnen gegenüber nicht autonom ist) keinen Eigenwert haben kann, um so mehr als „Wohl“ sich nur an der konkreten Person vollziehen kann und nicht etwa an der Gemeinschaft, die aus der Einigung von einzelnen gebildet ist. Bei Thomas hat noch das Gemeinwohl eine überragende Stellung (siehe Kommentar von Utz zum Band 18 der Thomasausgabe). Bei den Päpsten der ersten zwei Sozialenzykliken und vor allem bei Pius XII. ist die Person explizit ausgesprochen, das Gemeinwohl aber ist nut implizit.

Der Solidarismus (neuer Form) geht nicht von einer gegenseitigen Abhängigkeit sowohl der Generationen (= vertikale Solidarität) und auch nicht der Menschen der gleichen Generation (= horizontale Solidarität) aus, wie der laizistische Solidarismus eines Leon Bourgeois, ebensowenig ist er das Konzept einer Sozialschuld des Menschen, die sich förmlich von einem Sozialkontrakt ableitet.

Der Autor ist nicht Antithomist, also gegen die klassische Philosophie des Katholizismus (E. K. Winter), er bezieht also nicht Stellung in den Auseinandersetzungen von Aristotelikern und Platoni-kern. Was er feststellt, ist lediglich, daß Thomas nicht der ausschließliche Interpret der Tradition der Kirche ist und sein kann. Dies um so mehr, als die durch die Väter repräsentierte Tradition ohnedies kein einheitliches Gedankengebäude bietet, gar nicht davon zu reden, daß auch die Väter irgendwie die gesellschaftliche Situation ihrer Zeit in ihren Schriften reflektierten. Wer also Thomas interpretiert, interpretiert dadurch noch nicht authentisch die Offenbarung. Das will etwa sagen: Die Päpste und die Interpreten weisen in ihren Darstellungen nicht lediglich auf Thomas zurück, sondern machen eigenständige Aussagen über die durch die Offenbarung im Elementaren gegebenen Normen für das menschliche Zusammenleben.

Die tiefschürfenden Ausführungen und Untersuchungen des Autors bleiben im Raum der theologischen Disputation und vermeiden — so weit möglich — jeden Verweis auf die sozialökonomische Wirklichkeit. Personalismus und Solidarismus erfahren eine profunde Darstellung. Die beiden ersten Teile der Arbeit stellen Aussagen grundsätzlicher Natur dar. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Kommentierung von zum Teil lehramtlichen Äußerungen Pius' XII. und ist — gegenüber den zwei vorangehenden Kapiteln — zeitgebunden.

Zusammenfassend stellt der Verfasser fest: Die Soziallehre der Kirche hat einen ontologischen Grundcharakter (sie ist — als Idee — demgemäß eine vom Geist formulierte Abbildung des Objekts). Insoweit sollen die Wesensmerkmale der Gegenständlichkeit des Sozialen untersucht werden, seine ontologische Konstitution (zum Unterschied etwa von der Sozial-phänomenologie). Höchster Wert der Schöpfungsordnung ist die Person; sie handelt sozial, weil sie sozial, auf den Mitmenschen hin geordnet ist (entgegen den Annahmen der interaktionistischen Richtung in der Sozialpsychologie, nach welcher der Mensch erst in der Intimgruppe sozial adaptiert wird). Die offenkundig wachsende Betonung der Person stellt sich dem Autor als ein geschichtlicher Prozeß einer immer vollkommener werdenden Wahrheitsfindung dar.

Das Buch kann als ein hervorragender Beitrag zu einer bereits notwendig gewordenen innerkatholischen Sozialkontroverse betrachtet werden. Der Versuch eines bis zum Satzbau des jeweiligen Begriffes bereits einheitlichen Aussagegerüstes in der Frage des Sozialen hat — Wenn man das Modewort gebrauchen will — einen sozialkatholischen „Konformismus“ entstehen lassen, als dessen Folge jede „Abweichung“ von der Norm übel vermerkt wird.

Der Verfasser geht an die Quellen der Erkenntnis, er prüft die Sachverhalte unter Heranziehung eines außerordentlich großen literarischen Apparates und vermag dabei gleichzeitig eine neue Klassifikation der Aussagen zur katholischen Soziallehre zu bieten.

Der katholische Sozialwissenschaftler kann an dem Buch nicht vorbeigehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung