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Ein Standardwerk

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Jede geschichtliche Gesellschaft hat ihre soziale Frage, wenn man in dieser u. a. den Reflex bestimmter sozialer, ökonomischer und kultureller Bedingungen sehen will. Insoweit muß das, was als Wissensgut „Soziale Frage“ vorhanden ist, laufend mit der Wirklichkeit konfrontiert und im Maß der erkennbaren Aenderungen berichtigt werden. Es gibt daher nicht d i e soziale Frage, wenn es auch die einer Lösung der sozialen Frage zugrunde zu legenden moralischen Prinzipien gibt.

Die vorliegende sechste Auflage des deutschen Standardwerkes über die soziale Frage von Universitätsprofessor DDr. Messner (Wien und Birmingham) ist daher schon wegen der Eigenart des Gegenstandes kein Nachdruck etwa der im Dezember 1937 abgeschlossenen fünften Auflage, auch keine Berichtigung derselben, sondern eine völlige und mit Rücksicht auf die Fülle neuer Fakten unvermeidbar gewesene Neufassung, so daß daher kaum von einer „Neuauflage“ gesprochen werden kann.

Das umfangreiche Werk hat — wenn es auch mit wissenschaftlicher Genauigkeit und unter steter Be-dachtnahme auf die Fakten abgefaßt wurde — primär nicht den Charakter einer gelehrten Auseinandersetzung, sondern ist, wie eigentlich alle Bücher des Verfassers, ein Lehrbuch, und zwar ein verwendbares Lehrbuch. Dafür sorgt schon da lexikale Ausmaße annehmende Personen- und Sachregister im Umfang von nicht weniger als 40 Seiten.

Das Werk ist sachlich'dreigeteilt: Zuerst wird die Summe jener Gründe dargestellt, welche die moderne soziale Frage haben entstehen lassen (Kapitel „Kapitalismus“). Sodann werden die zwei repräsentativen Heinings- und Lösungsversuche, die des marxistischen Sozialismus (Kapitel „Der Sozialismus“) und die der christlichen Sozialreform dargestellt.

In einem einleitenden, lediglich der Definition der sozialen Frage gewidmeten Kapitel hebt der Verfasser nachdrücklich hervor, daß die soziale Frage keineswegs eine Arbeiterfrage allein, sondern eine „Frage“ der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung in ihrer ganzen Breite ist, ein Phänomen, das in sich sowohl die „Familie“ wie den „Mittelstand“, die „Vermassung der Gesellschaft“ wie auch die neuen Probleme des „Bauernstandes“ in sich schließt. Darüber hinaus ist die soziale Frage keine ausschließliche Sache der industriellen Gesellschaft der klassischen Stammländer des Kapitalismus, sondern eine Menschheitsfrage, ein globales Anliegen mit wesentlichem und wachsendem politischem Bezug (S. 22).

Bei der Schilderung des Entstehens der sozialen Frage moderner Art vermeidet der Autor jeden Romantizismus in Auffassung und Darstellung. Es v/erden daher etwa die Schwächen der mittelalterlichen Gesellschaft ebensowenig verschwiegen wie der Umstand, daß es gerade das kanonische Zinsverbot war, welches das Aufkommen des Kapitalismus nicht behinderte, sondern wegen des durch dasselbe ausgeübten Zwanges zur Profiterzielung das Werden des Kapitalismus geradezu förderte (S. 50). Ebenso leugnet Professor Messner nicht die „Klassengesellschaft“ als bedeutsamen Sachverhalt unserer Gesellschaftsordnung und die Notwendigkeit des Klassenkampfes, wenn er dazu dient, Ungerechtigkeiten zu beseitigen und insoweit sittlich gerechtfertigt ist (S. 139).

Im Abschnitt „Sozialismus“ weist Messner auf die leider zuwenig erkannte Bedeutung der Frühsozialisten hin, die auch auf „bürgerlicher“ Seite, in Annahme der Marxschen Klassifikation, zu sehr als „Amateure“ betrachtet und disqualifiziert wurden. Während Marx sich in Kapitalismuskritik erschöpft (S. 175), gehen die „Utopisten“ zu konstruktiven sorialreformatorischen Vorschlägen über und binden das sozialistische Gedankengut nicht an das Bestehen des Kapitalismus und an seine „Sterblichkeit“.

Bei Beurteilung des kommunistischen Sozialismus und seiner Realisierungen im Osten und in Asien übersieht Messner keineswegs die relativ bedeutenden ökonomischen Fortschritte und teilt nicht den nriven Optimismus der Anhänger der Zusammenbruchstheorie, die da meinen, daß geradezu notwendig, einfach schon aus dem Systemgedanken des Kommunismus heraus, dieser durch sein Unvermögen, bessere wirtschaftliche Lebensbedingungen zu schaffen, liquidiert wird.

Die Entwicklung im modernen Sozialismus wird vom Autor in einer musterhaften Objektivität und ohne jede Voreingenommenheit registriert und dabei festgestellt, daß man von einem „zweiten Revisionismus“ sprechen könne, der den demokratischen Sozialismus zu Anerkennung der Gültigkeit einer Art „gemischten“ sozialistisch-privatwirtschaftlichen Wirtschaft führe. Gerade sogenannte „freiheitliche“ Sozialisten sind es, die, weil echte „Fortschrittliche“, mit ihrem „offenen“ Sozialismus den vergessenen Ideen um die „Brüderlichkeit“ zum Durchbruch verhelfen und ein Gespräch zwischen Sozialisten und Christen im Prinzip möglich machen.

Freilich übersieht Messner auch nicht die neue Art der „Selbstentfremdung“ des Menschen gerade durch sozialistische Wirtschaftsweisen, die den Unternehmer nicht liquidieren können und dazu eine arteigene Form von Mehrwertentzug und (um den marxistischen Terminus zu verwenden) von „Ausbeutung“ realisiert haben, was zu jenem Unbehagen der sozialistischen Massen führt, das geeignet ist, dem Marxismus den Erlösungsmythos zu entziehen.

Im gewichtigen dritten Teil der Arbeit (die eigentlich ein Buch für sich darstellt) geht der Verfasser von den Standpunkten des christlichen Realismus aus, den schon seinerzeit Bischof Ketteier bei Beurteilung der sozialen Fragen seiner Tage eingenommen hatte (S. 295). Das heißt: Bedachtnahme auf die Tatsachen, da man die Natur (und auch das Soziale ist schließlich „Natur“ und von Gesetzlichkeiten in seinen Abläufen bestimmt) wohl berichtigen, nicht aber mit Gewalt ändern kann. Ganz abgesehen vom Versuch, das, was sein soll, als wirklich hinzustellen. M. E. war gerade die fatale Vernachlässigung der Fakten Grund dafür, daß wir in der Sozialreform wohl die Argumente zu liefern, aber relativ wenig zu konkreten Lösungen beizutragen vermochten.

Der christliche Realismus von Professor Messner zeigt sich (worauf schon in einem anderen Zusammenhang hingewiesen wurde) bei der Interpretation des mittelalterlichen Zinsstreites (S. 297) und noch stärker vielleicht bei der Distanzierung gegenüber den versuchten Verabsolutierungen der sozial-reformatorischen Bedeutung der handwerklich-bäuerlichen Wirtschaftsweisen (S. 298).

In einem umfangreichen, alle relevanten Einzelfragen erschöpfend behandelnden Katalog von Kategorien und Prinzipien christlicher Sozialreform wird, ausgehend vom primären wie vom sekundären (angewandten) Naturrecht, auf die Neuordnung der Gesellschaft (als ein Ganzes) eingegangen.

Der dem Referenten zur Verfügung stehende Raum macht es unmöglich, einzelne Fragen zu besprechen, da kleinste Abschnitte schon einer eigenen Besprechung wert wären: „Subsidiarität“ (S. 363), „Gemeinwohl“ (S. 355) usw. Auch über die Frage der Gewerkschaften, bisher im sozialwissenschaftlichen Schrifttum etwas stiefmütterlich behandelt, wird (S. 583 ff.) eingehend referiert und dadurch ein wertvoller Beitrag zu einer „Gewerkschaftstheorie“ geliefert.

Das Werk ist sicherlich für manchen, dein es (wie er glaubt) an Zeit mangelt, umfangreich. Die geradezu klassisch einfache Sprache macht aber das Buch leicht leserlich. Stets werden präzise Definitionen an die Spitze der Kapitel gesetzt. Fachausdrücke werden erklärt. Dazu kommt das Sachregister; es ist derart, daß das Buch, wenn man schon nicht die „Kraft“ haben sollte, es zur Gänze zu lesen, „zumindest“ als Nachschlagewerk geeignet erscheint.

Wer zu sozialen Fragen Stellung nehmen will, kann über das vorliegende Werk von Prof. Messner kaum hinweggehen, gibt es doch, wenn man von den Schriften von Professor Nell-Breuning absieht, im deutschen Sprachraum kaum ein Sammelwerk, das in einer derart umfassenden Weise das Gesamtgebiet der sozialen Frage behandelt und das Fehlen des (noch immer im Stadium der Planung befindlichen) Soziallexikons der Görres-Gesellschaft kompensiert.

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