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Prof. Nell-Breuning zum 75. Geburtstag

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Ihrer Substanz nach ist die katholische Gesellschaftslehre fest umrissen; dennoch geht sie elastisch auf die neuere Entwicklung ein. Rund vier Jahrzehnte lang und nicht nur im deutschsprachigen Raum hat Professor Oswald von Nell-Breuning SJ., der am 8. März 75 Jahre alt wurde, ihren Werdegang kräftig mitgeprägt. Zwar hatten die überkommenen Formen des Staatlichen gerade einen heftigen Stoß erlitten, als sein Name im gesellschaftsethischen Schrifttum auftauchte; nach wie vor hielt man vieles Zeitbedingte für absolut gültig. Hinweise, die ungewohnte Gestaltungen sinnhaft nannten, waren wenig willkommen. Das Feste vom Veränderlichen zu unterscheiden und dem menschlich Besseren zu dienen, auch wenn es neu war, wurde zur Aufgabe, bei der sich die katholische Gesellschaftslehre und in ihr von Nell-Breuning entfaltete.

Es ist bezeichnend, daß Nell-Breuning mit einem Beitrag „Zur Frage der gottgewollten Wirtschaftsordnung“ (1924) begann. Unbefangen war man der Meinung, das Christentum begegne der Wirtschaft und Gesellschaft mit streng verbindlichen und zugleich konkret ausgefüllten Sollenssätzen. Neil-Breunings Weg ist Vollzug und Funktion einer Entwicklung, die nach der einen Seite die unantastbaren Kerngehalte und nach der anderen die hohen Freiheitsgrade des christlichen Ordnungsgedankens herausarbeitete. Im Prinzip bleiben Staatlichkeit und Eigentum unverzichtbar; welche Mühe aber kostete es in tatbestandlichen Erhebungen darzutun, welche große Zahl höchst unterschiedlicher Gebilde Merkmale des Staatlichen aufweist, wie komplex der Begriff des privaten Eigentums ist, wie mißverständlich der des Standes und des Berufsstandes gehandhabt wird, wie rasch die so endlos zitierte Aufgliederung der Bevölkerung in zwei Klassen inaktuell und durch den Pluralismus organisierter Interessen verdrängt ist, welchem Funktionswandel Gewerkschaften unterliegen!

Im Überblick über das ausgedehnte Schrifttum Neil-Breunings läßt sich deutlich erkennen, daß sich die Leitideen der normativen katholischen Gesellschaftslehre Zug um Zug differenzieren. Immer häufiger handelt es sich um ihre Anwendung, kaum noch um sie selbst. In den Vordergrund tritt die Frage einer rechten Kombination der volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundziele und die Analyse der Verfahren, die erfolgreich zu sein versprechen. In einer Art von Symbolik spiegelt sich dieser Wandel in der Beratertätigkeit, die Nell-Breuning ausübte: In der Zeit, da die Enzyklika „Quadragesimo anno“ vorbereitet wurde, unternahm er nach dem Bericht von Zeitgenossen mehrere Reisen nach Rom. deren Zweck nicht offen bekannt wurde — heute ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates beim Bonner Bundeswirtschaftsministerium ; zeitweise gehörte er auch dem Wissenschaftlichen Beirat zweier anderer Bundesministerien an.

Ein bequemer Berater war Nell-Breuning nie. Immer wieder geschah es. daß er zum Schrecken derer, die ihn als Freund betrachteten, nüchtern Zusammenhänge analysierte, die verschwiegen werden sollten, und von möglichen Fortschritten sprach, die eher solche der Gegner seiner Freunde waren. Darauf bedacht, gültige Normen genauestens zu beachten, lag es ihm ganz und gar nicht, kirchlichen, staatlichen oder anderen Autoritätsträgern nach dem Munde zu reden, mit dem Ergebnis, daß manche Beraterposition nur anlief, aber nicht andauerte. Je mehr die Interessierten dazu übergingen, wissenschaftliche Urteile einzukaufen wie Fahrkarten, desto schroffer kapselte sich Nell-Breuning ab. Selbst Orden, Preise und Ehrungen, die gar nicht gedacht waren, ihn zu binden, wies- er. um nach allen Seiten unabhängig und glaubwürdig zu bleiben, zurück.

Wie alle Geisteswissenschafter hat Nell-Breuning ununterbrochen gelesen und sicher Hunderte von Büchern besprochen. Trotzdem pflegte er seine eigenen Ausführungen nicht durch parallele Texte anderer zu belegen. Sein Stil war es, in eigenen Formulierungen Stellung zu nehmen. Begriffe, die in irgendeiner Disziplin einen exakt definierten Inhalt haben, subjektiv abzuwandeln, hält er für verwirrend und unzuläß-lich; anderseits lehnt er es ab, zu der jargonhaften Terminologie überzugehen, in der sich manche Gesellschaftswissenschaft gefällt. Seine Schriften sind so geschrieben, daß sie in ihrer Sprache für jedermann verständlich sind, wenn sie auch hohe wissenschaftliche Anforderungen stellen, wie etwa die in drei Bänden unter dem Titel „Wirtschaft und Gesellschaft heute“ (Verlag Herder, Freiburg) gesammelten Aufsätze beweisen..

Von Haus aus Aristokrat und in seiner trockenen, kurzen Art alles andere als populär, kannte ihn schon die Arbeiterbewegung der Weimarer Zeit als ihren „Professor“. Bei aller Objektivität ist er das geblieben. Niemand dürfte den nach dem zweiten Weltkrieg wiederbegründeten deutschen Gewerkschaften so harte Worte gesagt haben, wie Nell-Breuning; aber er blieb ihnen verbunden und darum bemüht, ihnen mit konstruktiven Ideen voranzuhelfen. Nichts verwirft er schärfer als die beliebte Taktik, einen wissenschaftlichen oder gesellschaftspolitischen Gesprächspartner auf Programmpunkte festzulegen, die er nie vertreten oder längst aufgegeben hat. Nur um eine Leitbildlehre oder Bewegung weiter bekämpfen zu können, ihr destruktive Ziele zu unterstellen, ist für ihn unerlaubt.

Mit seinen 75 Jahren arbeitet Nell-Breuning, als wäre er um Jahrzehnte jünger, nicht in dem Bewußtsein, die Gesellschaft ließe sich in einen Idealzustand verwandeln, aber davon überzeugt, daß noch vieles geschehen kann, die Menschlichkeit und die Stabilität der Gesellschaft zu erhöhen.

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