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Das Gleichnis von den zehn Stäben

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Vor zehn Jahren, am 1. Mai 1954, versammelten sich zum erstenmal nach Kriegsende über 700 Burschen und Mädel der Katholischen Arbeiterjugend in Mariazell. Sie haben sich dort als eine Gemeinschaft, als Arbeiter und als Katholiken kennengelernt, und sie haben gebetet für ihre Brüder und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs. Nun waren sie zehn Jahre später wieder nach Mariazell gekommen, und einer von denen, für die sie damals gebetet haben, der damals noch seiner Freiheit beraubt war, Kardinal Wyszynski, war mitten unter ihnen.

Es hat zwei Tage in Mariazell geregnet, und es war empfindlich kalt, und die Burschen in ihren Hemden und die Mädchen in ihren Sommerkleidern mögen auch manchmal gefroren haben. Aber das hat ihrer Freude und ihrer Begeisterung keinen Abbruch getan. Es war eine echte Arbeiterjugend, die sich in Mariazell versammelt hat. Echt in ihrem Gehaben, echt in ihrer Sprache, und wenn man sie zu Tausenden in ihren blauen Halstüchern gesehen hat, bei der Lich-terprozession, bei den Kundgebungen, auf den Straßen und den Gaststätten, der konnte meinen, daß sie sich rein äußerlich nicht unterschieden von der großen Menge der arbeitenden Jugend Österreichs, von der sie nur ein kleiner Teil sind. Gerade weil sie nur ein kleiner Teil sind, haben sie drei Voraussetzungen nötig, um die sie in Mariazell gebetet haben: Um den Mut, in einer vom Materialismus beherrschten Welt ihren Arbeiterkollegen wieder Christus zu zeigen, um Einheit, Geschlossenheit und Gemeinschaftsgeist und um geduldige Ausdauer, damit sie nicht verzagen an der Größe ihrer Aufgabe.

Besonders den Geist der Gemeinschaft, Einigkeit und Geschlossenheit legte ihnen Erzbischof Rohracher ans Herz in seiner Predigt bei der großen Gemeinschaftsmesse, die Kardinal König zelebrierte. Er erzählte ihnen die Geschichte von den zehn Söhnen, denen der Vater diese Einigkeit und Geschlossenheit an einem Bündel von Stäben demonstrierte. Jeder einzelne Stab kann gebrochen werden, ein Bündel von zehn Stäben aber nicht. Vielleicht mag da der eine oder andere mit etwas Trauer daran gedacht haben, daß bei dieser Wallfahrt nur die Arbeiter und Jugendlichen aus vier Diözesen teilgenommen haben. Das Burgenland, die Steiermark, Oberösterreich, Tirol-Vorarlberg fehlten.

Von den acht Stäben fehlten vier. Acht Stäbe sind stärker als vier. Eine einfache Rechnung.

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