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Mariazell auf dem Weg zur Geistlichen Hochschule Europas

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Der Name „Mariazell" ist von vielschichtiger Bedeutung. Er weckt Assoziationen, ruft in vielen Menschen Erinnerungen hervor, provoziert Zukunftshoffnungen, ist verbunden mit ungezählten persönlichen Schicksalen und mit der Geschichte unseres Landes und unserer Kirche. Für nicht wenige Menschen heißt „Wallfahrt" einfach: nach Mariazell gehen.

Dieser Gnadenort war immer auch ein Ort übernationaler Einheit in der Vielfalt der Geographie, der Geschichte, der Völker und Kulturen. Diese Aufgabe aber nur der Vergangenheit zuzuweisen, käme einem Verkennen der gegenwärtigen Realität gleich. Es ist bewegend, tagtäglich miterleben zu dürfen, daß bei den Völkern des Ostens und Südostens, denen der Weg nach Mariazell während des kommunistischen Regimes versperrt war, die Liebe zu diesem Ort nicht abgebrochen ist, und daß auch die Nachfolgegenerationen ihre Verbundenheit neu bezeugen.

Von dieser Erfahrung getragen, hat Mariazell eine versöhnende, völkerverbindende und ökumenische Aufgabe. Die lange ost-westliche Maria-zeller Erfahrung sollte hier nicht ungenutzt bleiben. Die konkrete und zeitlich noch sehr junge Erfahrung einer Kirche des Martyriums muß hier eingebracht werden. Es sollte dabei nicht vergessen werden, daß es in den Fünfzigern die Kirche Österreichs war, näherhin die Katholische Arbeiterjugend und die Arbeiterbewegung, die vor der Gnadenstatue die „stummen Kerzen" aufgestellt haben, nicht nur als Zeichen des Protestes, sondern als Verpflichtung zum Gebet.

Vielleicht wäre gerade von Mariazell aus ein Postulat zu setzen, nämlich insofern, daß nicht nur Pilger aus den benachbarten südlichen und östlichen Ländern zu uns kommen, sondern daß auch von hier aus Wege des Verstehens eröffnet werden, etwa zwischen Slowenen, Kroaten und Serben, zwischen Ungarn und Rumänen, zwischen Tschechen und Slowaken, zwischen Slowaken und Ungarn. Oft erleben wir eindrucksvoll, daß anscheinend in Mariazell ansatzhaft das bereits möglich wird, was zu Hause noch kaum vorstellbar ist, indem die Genannten miteinander vor dem Gandenaltar feiern und beten. Diese Krfahrung, so scheint mir, ist eines der vielen unspektakulären, aber großen Wunder von Mariazell.

Bischof Weber hat vor einigen Jahren das Wort von der' „Geistlichen Hochschule Europas" in Zusammenhang mit Mariazell geprägt. Diesem Anspruch sind wir sicher noch nicht gerecht geworden, aber er wird ansatzweise verwirklicht im Dialog zwischen den Kirchen, in der Vollversammlung der Europäischen Bischofskonferenz in diesem Jahr, durch die Europagespräche und nicht zuletzt durch die große Wallfahrt im Oktober, die „Ausgewiesene" und Landsleute von Böhmen, über Siebenbürgen und Ungarn, bis zum Ba-nat hier zusammenführen wird.

In Mariazell verdeutlicht sich Aufbruchstimmung in verdichteter und geschenkter Form. Noch nie zuvor waren so viele Fußwallfahrer auf den alten Pilgerwegen unterwegs, wie wir es derzeit erleben. Vor Jahren haben manche noch gemeint, Wallfahrt sei ein Belikt vergangener Zeiten. Es entstehen aber immer neue Wallfahrten, vor allem sind es auch junge Menschen, die die großen Strapazen eines langen Weges nicht scheuen. Wallfahrt kann von hier aus nicht organisiert werden, diese Aufbruchstim-mung geschieht einfach. Was mag es wohl sein, wenn Menschen oft ihre Freizeit dafür opfern, um tagelang als Betende und Hoffende mit der Sehnsucht des Glaubens aufzubrechen? Wallfahrt ist kein Modeartikel und keine Neuentdeckung des Sporttourismus. Wer den Aufbruch des Pilgers mit diesen Maßstäben zu messen versucht, wird das Phänomen „Wallfahrt", das es in nahezu allen Beligio-nen gibt, insbesondere der christlichen Wallfahrt nicht verstehen.

So hat der Eisenstädter Bischof Iby anläßlich der letzten Kroatienwallfahrt gefragt: „Was ist das Geheimnis von Mariazell?" Seine Antwort: „Ich glaube, das Geheimnis dieses großen Wallfahrtsortes ist, daß wir hier einen Ort der bedingungslosen Güte der Gottesmutter und durch sie einen Ort der bedingungslosen Güte Gottes erfahren." Wer als Pilger aufbricht, vertraut dieser Güte und wird beschenkt, indem Verzweiflung und Resignation sich oft zur Hoffnung, Mutlosigkeit und Müdigkeit sich zum Mut und einem Neuanfang wandeln.

Die Wallfahrt kommt aus der Wahrheit Gottes. Er ist der, der die Ur-Initiative ergriffen hat und der unermüdlich auf uns zugeht. Der Pilger ernährt sich auf dem Wallfahrtsweg als Angenommener, zugleich aber auch als der, der in seiner Unruhe ein Suchender bleibt und nur Gast auf Erden ist. Somit ist jedes Aufbrechen als Pilger ein Einüben in die Wirklichkeit des Glaubens.

Es mag wenige Orte geben, an denen sich Leben und Glauben in dieser dichten Wirklichkeit begegnen, an denen die Freude am Glauben so realistisch erlebt wird. In der barocken Basilika riecht es mehr nach Schweiß und Dreck als nach Weihrauch.

Wünschenswertes ist auch in diesem Zusammenhang anzumerken, daß ein Wallfahrtsort mit so vielen Menschen zu keinem „religiösen Durchhaus" werden darf. Zeiten des An-kommens und Aufbrechens sind ebenso wichtig wie Zeiten des Verweilens, der Stille und der Umkehr. Ich möchte die Frage nicht zu beantworten versuchen, warum gerade in Mariazell so viele Menschen den Mut zur Umkehr suchen und den Weg zum Beichtstuhl nicht scheuen.

Über den religiösen Wert hinaus hat Mariazell auch politische und ek-klesiologische Bedeutung, erinnert sei an das „Mariazeller Manifest". Kirche des Volkes Gottes in der ihr eigenen Vielfalt wird hier erlebbar. Praktizierende und „Kaum-noch-Chri-sten", Arme (wirklich Arme) und Bei-che, Einflußreiche, Gesunde und Kranke nehmen die Schwelle und werden nicht selten zu Knieenden. Meine Mitbrüder sagen oft: „In Mariazell hat vieles Platz." Dem wäre hinzuzufügen: Es hat Platz, wer aufbricht, wer sich beschenken läßt, wer die Demut liebt, wer die Sehnsucht kennt, wer das Magnifikat Mariens als eigenes Lebenslied annimmt. Eine krankhafte und angstvolle Enge des I-ebens und Glaubens steht im Widerspruch zu einem Ort der Gnade.

Kardinal König hat es kürzlich in einem Wunsch so zum Ausdruck gebracht: „Die Menschen, die Pilger, die nach Mariazell kommen, mögen erkennen, daß sie nicht nur Verwalter der Vergangenheit, sondern Gestalter einer gemeinsamen Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden sind."

Der Autor ist

Supeiior in Mariazell

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