Mariazeller Manifest

Werbung
Werbung
Werbung

Am 1. Mai begann und am 4. Mai endete in Mariazell die Studientagung des Österreichischen Katholikentages 1952. Die Beratungen [...] waren ein Versuch, der erste seiner Art in der Geschichte des österreichischen Katholizismus. Zum erstenmal sollten über alle organisatorischen und diözesanen Schranken hinweg Priester und Laien aus ganz Österreich, die hervorragendsten Experten in allen das katholische Leben der Gegenwart berührenden Fragen, zusammenkommen, um in voller Freiheit zu beraten [...]

Die Beratungen standen unter dem Motto des Katholikentages "Freiheit und Würde des Menschen". Die Kirche ist es heute, die die Fahne der Freiheit hochhält, und besonders der Kirche wird es zu danken sein, wenn Freiheit und Würde des Menschen über diese Zeit der Bedrängnis hinübergerettet werden. In diesem allermenschlichsten Anliegen ist die Kirche über alle sozialen, politischen und konfessionellen Schranken hinweg zur Sprecherin der ganzen Menschheit geworden. Was sie fordert, fordert sie nicht für sich allein, sondern für alle Menschen; die Freiheit, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt, ist sie bereit, allen zu gewähren, die gemeinsam mit ihr Freiheit und Würde des Menschen verteidigen wollen.

"Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft" - damit kann Anliegen, aber auch Ergebnis der Studientagung in Mariazell zusammengefasst werden.

Eine freie Kirche, das heißt, die Kirche ist auf sich selbst gestellt und nur auf sich selbst. Jede geschichtliche Epoche hat ihre eigenen Notwendigkeiten und ihre eigenen Möglichkeiten. Heute aber hat die Kirche keinen Kaiser und keine Regierung, keine Partei und keine Klasse, keine Kanonen, aber auch kein Kapital hinter sich. Die Zeit von 1938 bis 1945 bildet hier eine unüberschreitbare Zäsur; die Brücken in die Vergangenheit sind abgebrochen, die Fundamente für die Brücke in die Zukunft werden heute gelegt. So geht die Kirche aus einem versinkenden Zeitalter einer Epoche neuer sozialer Entwicklung entgegen. Eine freie Kirche bedeutet daher:

* Keine Rückkehr zum Staatskirchentum vergangener Jahrhunderte, das die Religion zu einer Art ideologischen Überbau der staatsbürgerlichen Gesinnung degradierte, das Generationen von Priestern zu inaktiven Staatsbeamten erzog.

* Keine Rückkehr zu einem Bündnis von Thron und Altar, das das Gewissen der Gläubigen einschläferte und sie blind machte für die Gefahren der inneren Aushöhlung.

* Keine Rückkehr zum Protektorat einer Partei über die Kirche, das vielleicht zeitbedingt notwendig war, aber Zehntausende der Kirche entfremdete.

* Keine Rückkehr zu jenen gewaltsamen Versuchen, auf rein organisatorischer und staatsrechtlicher Basis christliche Grundsätze verwirklichen zu wollen.

Auszüge aus dem Mariazeller Manifest

Fortsetzung von Seite 4

Eine freie Kirche heißt aber auch, dass die Kirche das Recht für sich inAnspruch nimmt, sich frei zu entfalten, missionarisch tätig zu sein,Sakramente zu spenden, Schulen zu gründen, ohne - wie es in der heutigen Schul- und Ehegesetzgebung der Fall ist - auf ihrem ureigensten Gebiet durch staatliche Vorschriften gehemmt zu sein. Eine freie Kirche bedeutet aber nicht eine Kirche der Sakristei oder des katholischen Ghettos, eine freie auf sich selbst gestellte Kirche heißt eine Kirche der weltoffenen Türen und ausgebreiteten Arme, bereit zur Zusammenarbeit mit allen, zur

* Zusammenarbeit mit dem Staat in allen Fragen, die gemeinsame Interessen berühren, also in Ehe, Familie, Erziehung;

* Zusammenarbeit mit allen Ständen, Klassen und Richtungen zur Durchsetzung des gemeinsamen Wohls;

* Zusammenarbeit mit allen Konfessionen auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens an den lebendigen Gott, Zusammenarbeit auch mit allen geistigen Strömungen, mit allen Menschen, wer immer sie seien und wo immer sie stehen, die gewillt sind, mit der Kirche für den wahren Humanismus, für "Freiheit und Würde des Menschen" zu kämpfen.

Eine freie Kirche aber kann nur leben, die Würde des Menschen ist nur gesichert in einer freien Gesellschaft. Daher hat die Studientagung in Mariazell gleichen Nachdruck wie auf die freie Kirche auch auf die freie Gesellschaft gelegt. Nach sieben Jahren Unterdrückung und weiteren sieben Jahren vorenthaltener Freiheit ist die Kirche heute zum Anwalt des Freiheitswillens des österreichischen Volkes geworden. Jetzt, da sie alte Bindungen gelöst hat und allein auf sich selbst gestellt ist, ist sie nur noch enger mit dem Schicksal des österreichischen Volkes verbunden und erhebt auch hier ihre Stimme, um dem Recht Österreichs Gehör zu verschaffen. Aus der Vergangenheit unserer Heimat und aus der Gegenwart in unserer Nachbarschaft hat das katholische Volk und hat die Kirche gelernt. Niemandem wird es gelingen, sie in jenen Zustand der Verwirrung zu versetzen, der es gestattet, ihre Freiheit und damit die Freiheit des ganzen Volkes zu Fall zu bringen.

Eine freie Gesellschaft, in der auch die Kirche frei leben kann, verlangt aber auch den Abbau jener letzten Reste totalitärer Einrichtungen, wie sie zum Schaden der österreichischen Demokratie noch in einem gewissen Absolutismus der politischen Parteien und in einer politischen Ausnahmegesetzgebung besteht, verlangt energisch Frontstellung gegen alle Übergriffe der Staatsallmacht, gegen jede Anmaßung des Staates zur totalitären Erfassung aller Lebensgebiete, Bekenntnis zum Prinzip der Subsidiarität, verlangt Schutz des einzelnen und Schutz der Persönlichkeit.

[...]

Eine freie Kirche in freier Gesellschaft aber kann nur im Frieden leben und wirken. Mit einem Gebet um den Frieden, Frieden mit Gott und Frieden unter den Völkern, begann und schloss die Tagung in Mariazell.

Eine Versammlung von Laien und Priestern hat in voller Freimütigkeit in Mariazell all diese Fragen durchgesprochen, nach Lösungen gesucht und diese den Bischöfen übermittelt. Es waren Fragen, die weit über den kirchlichen Rahmen hinaus alle Menschen in Österreich berühren, so wie der Leitgedanke des Katholikentages "Freiheit und Würde des Menschen" ein Anliegen aller ist. Die Kirche ist für alle da, für jene, die an sie glauben, aber auch für jene, die sie bekämpfen, die nichts mehr von ihr wissen wollen. Im Umbruch der Zeiten steht sie als Hort wahrer Freiheit, als Hüterin wahrer Menschenwürde. [...]

Aus dem offiziellen Bericht der Pressestelle des Österr. Katholikentages 1952.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung