Antisemitismus: Fortschritt in Frage

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Der August bietet eine Gelegenheit, tief in den Spiegel der Geschichte zu blicken – und darin die Gegenwart zu sehen? Vor 700 Jahren eskalierten in Frankreich soziale Spannungen und entluden sich in Gewalt gegen Juden. Am 21. August 1321 wurden im mittelfranzösischen Chinon 160 Juden verbrannt, die (gemeinsam mit Leprakranken) der Brunnenvergiftung bezichtigt wurden. Im Jahr zuvor hatten mit dem „Hirtenkreuzzug“ Teile der verarmten Landbevölkerung gegen die königliche Herrschaft rebelliert. Juden wurden als finanzielle Unterstützer der Krone gesehen; traditioneller Antijudaismus und andere Vorurteile führten zu bizarren Verschwörungstheorien.

Sieben Jahrhunderte später wirken diese Ereignisse wie Spiegelbilder der heutigen Zeit. Im August 2017 zogen weiße Nationalisten durch Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia. Einer ihrer Schlachtrufe lautete „Juden werden uns nicht verdrängen!“ Aktuelle Corona-Proteste richten sich gegen politische und finanzielle Eliten. Wenn von den wenigen Familien geraunt wird, die mit ihrem Kapital die globale Wirtschaft steuern, klingt das Motiv der jüdischen Hochfinanz an. Oder es wird explizit durch Karikaturen des Investors George Soros als Vampir, eine Anspielung auf Ritualmord-Legenden, die seit dem 12. Jahrhundert auf Juden zielen. Haben wir nichts aus der Geschichte gelernt? Was ist mit dem Optimismus, dass mit Aufklärung, Demokratisierung und Bildung auch moralischer Fortschritt einhergeht, hin zu Toleranz und Gleichberechtigung? – Der nie verschwundene Antisemitismus ist nicht das einzige Argument, das die große Fortschrittserzählung der westlichen Moderne in Frage stellt. Diese Erzählung ist eine säkulare Form religiöser Erlösungserwartungen – und Geschichtsoptimismus oder –pessimismus damit eine Glaubensfrage.

Der Autor lehrt jüdische Religions- und Geistesgeschichte an der Universität Potsdam.

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