6859252-1977_29_04.jpg
Digital In Arbeit

Schwachsinn mit tödlichem Ausgang

Werbung
Werbung
Werbung

Als de Gaulle 1944 unter dem Triumphgeheul der Franzosen in Paris einzog, schoß die deutsche SS aus der Rue de Rivoli hinüber zu den Champs Elysėes. Sofort warf sich die nach Zehntausenden zählende Menge flach zu Boden, nur de Gaulle blieb aufrecht stehen. Es gab keine Toten. In Wien, so erfuhr man aus der in FS 1 ausgestrahlten Dokumentation, liefen am 15. Juli 1927 die Demonstranten vor den Kugeln der Polizei einher. Ein Motorradbesitzer begab sich, als er schießen hörte, eilends zum Brennpunkt der Ereignisse, um ebenfalls vor den Kugeln einherlaufen zu können. Aus einem Blindeninstitut wurde geschossen. Blind aus den Fenstern zu schießen, muß damals von allen Beteiligten als die adäquate Form demokratischer Willensäußerung angesehen worden sein, denn mit Aus-dem-Fenster-Schießen hatte ja in Schattendorf alles seinen Anfang genommen. Schwachsinnige Geschworene (Geschworenengerichte müssen bekanntlich sein, denn sonst hätten die Jakobiner von 1790 ja unrecht gehabt) erkannten alsbald, zwecks Sicherung des demokratischen Rechts auf Aus-dem-Fenster- Schießen, nicht etwa auf Totschlag und ein bedingtes Urteil, sondern auf unbedingten Freispruch. Die begabtesten Journalisten des Landes, der einen Seite sowohl wie der anderen, nahmen sich der Sache an mit dem Erfolg, daß sich in den Köpfen der großstädtischen Prüg ler und Häuseranzünder der Begriff des Arbeitermordes bildete, einer qualifizierten Form, des Lustmords, ausgeübt von allen übrigen Teilen der Bevölkerung infolge abwegiger hereditärer Veranlagung. Tote gab es, so erfuhr man, immer nur auf der eigenen Seite. Keiner der Überlebenden begriff Zusammenhänge, bis zum heutigen Tage. Eine Frau erzählte, sie sei nach Melk gefahren … Wenn es knallte, traten Anrainer ans Fenster und erzählten später alles Heimito von Doderer. Pferde wurden, offenbar aus kultischen Gründen, auf offener Straße geschlachtet, Brandstifter hielten den Bürgerkrieg für einen Schweir gemarsch.

Waren wir allesamt denn tatsächlich so unterbelichtet? Und sind wir es am Ende heute noch?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung