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Waren die Pharisäer wirklich „Pharisäer“?

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Waren die Pharisäer wirklich „Pharisäer“? Gab es tatsächlich keinerlei Gemeinsamkeit zwischen ihnen und Jesus Christus? Stimmt es, daß sie durch ihre streng dogmatische Auslegung der Thora den Problemen ihrer Zeit verständnislos gegenüberstanden? Diese, wie er sagte, mehr als zweitausend Jahre alten Vorurteile versuchte kürzlich der Religionswissenschaftler Dr. Ernst Ludwig Ehrlich zu widerlegen.

Diese Beurteilung der Pharisäer entspricht nicht den geschichtlichen Tatsachen, ohne daß man den Autoren eine bewußte Fälschung von Fakten vorwerfen könnte. Es gibt eben so gut wie keine brauchbaren historischen Quellen über die Pharisäer, erklärt Ehrlich.

Das Neue Testament kann als Geschichtsschreibung im wissenschaftlichen Sinn nicht herangezogen werden. Die Evangelisten haben den Konflikt zwischen den Pharisäern und Jesus im Bewußtsein beschrieben, daß Christus der auferstandene Herr ist. Zu diesem Zeitpunkt ging es ihnen weniger um die historisch genaue Wiedergabe dieser Auseinandersetzung als um die Glaubensvermittlung. Die Schriften des Geschichtsschreibers Flavius Josephus waren als Missionsschriften für die Römer gedacht. Flavius beschrieb die Pharisäer als Philosophenschule, um den Römern ihren Gegensatz zu Jesus begreiflich zu machen. Seine Darstellung erscheint verzerrt und ist als historische Quelle nicht brauchbar.

Selbst im Talmud gibt es zahlreiche positive und negative Klischees und Vorurteile. Schließlich heißt es dort jedoch, daß die Pharisäer „das Gute aus Liebe zu Gott tun“.

Es ist nicht bekannt, woher die Bezeichnung „Pharisäer“ kommt und wann sie entstanden ist. Wahrscheinlich war der Name ein Sammelbegriff für verschiedene Gruppen, die aus einer ursprünglich kleinen Gemeinschaft hervorgegangen sind. Der Inhalt und die Rolle des Pharisäertums haben sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Es ist anzunehmen, daß der Name noch beibehalten wurde, als er längst eine andere Bedeutung hatte. Von den Pharisäern ein präzises Bild zu bekommen, ist also unmöglich, und die Vorurteile gegen sie, zu denen etwa ihre Beschreibung als „Gesetzesneurotiker“ gehört, können nur auf Mißverständnissen beruhen.

Zunächst einmal waren die Pharisäer keineswegs, wie oft angegeben wird, eine religiös-politische Partei, sondern eine jüdische Volksbewegung, betonte Ehrlich. Sie bemühten sich, die religiösen Gebote zu erfüllen, und Jesus hat ihnen selbst zugestanden, daß sie das Liebesgebot sehr emstgenommen haben. Sie waren gegen das aristokratische Priestertum der Saduzäer, und die Spannung zwischen den beiden Gruppen war nicht selten die Folge des sozialen Engage- mentes der Pharisäer.

Ein Beispiel: Reiche Juden, die von den Phöniziern Glas und Metall kaufen konnten, sahen eine Möglichkeit,

mit diesen neuen Werkstoffen dem Sabbatverbot auszuweichen. Die Pharisäer wollten beide Stoffe denselben Gesetzen unterwerfen, wie etwa das bereits in der Thora angeführte Holz. Was vordergründig wie eine rein dogmatische Auslegung der religiösen Vorschriften aussah, war für die Pharisäer gleichzeitig eine soziale Frage.

Mit ihrer Forderung wollten šie die heimischen Materialien schützen und Privilegien der Reichen verhindern.

In ihrer Beteiligung am politischen Geschehen war die Haltung der Pharisäer im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedlich. Es gab Zeiten, da sie aktiv mitarbeiteten, und solche, da sie sich aus der Politik bewußt heraushielten und in die „innere Emigration“ gingen.

Auch im politischen Bereich gibt es ein Beispiel für die Überschneidung mit der religiösen Tradition. Nach den Makkabäerkriegen hatten sich die Hasmonäer selbst als Hohepriester eingesetzt. Obwohl nach der Tradition dieses Amt nur Juden aus dem Geschlecht Aarons bekleiden durften, hatten die Pharisäer diese Tatsache stillschweigend akzeptiert. Als sich die Hasmonäer jedoch auch den Königstitel anmaßen wollten, wehrten sich die Pharisäer nicht nur gegen diesen weiteren Verstoß gegen die Tradition, wonach der König ausschließlich aus dem Geschlecht Davids stammen mußte, sondern ebenso gegen die massive Machtkonzentration der Hasmonäer.

Am stärksten aber, meinte Dr. Ehrlich weiter, ist die Fehleinschätzung der Pharisäer im theologischen Bereich. Die Juden des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts lebten nach einer Schrift, die mehr als 600 Jahre alt war und den Erfordernissen ihrer Zeit nicht mehr entsprach. Die Pharisäer bemühten sich, das Thoragesetz „leb- bar“ zu machen. Sie wollten Gott in diese Welt bringen und das Thorawort zeitgemäß gestalten. Sie wandten sich gegen die Saduzäer, die die Deutbar- keit des Thorawortes ablehnten. Es ist jedoch gerade das Prinzip der Dynamik, das die Erhaltung des Judentums bis zum heutigen Tag ermöglicht hat. Gruppen, die diese Dynamik nicht anerkannt haben, konnten sich niemals durchsetzen.

Jesus lehnte Gespräche mit den Sa- duzäem, die jede Neuerung ablehnten, mit den Worten „Ihr versteht gar nichts“ ab. Dagegen fand er trotz vieler Meinungsverschiedenheiten auch viel Gemeinsames im Dialog mit den Pharisäern. Uber den Grundsatz des Lie- besgebotes etwa waren sie sich einig. Der Glaube an die Auferstehung der Toten, der erstmals im 12. Buch Daniel 166 vor Christus aufscheint, ist auf die Pharisäer zurückzuführen. Er wurde zum Wesen des jüdischen Glaubens, und auch in dieser Frage war Jesus mit den Pharisäern einer Meinung.

Für die Pharisäer galt Gott als die fraglose Wirklichkeit und die Offenbarung, die nicht nur die zehn Gebote, sondern die ganze Tradition umfaßte, als Tatsache. Die Thora war ihnen Richtschnur, und die Hoffnung auf Erlösung sahen sie in der Erwartung einer nahen oder fernen Zukunft.

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