Annenstraße Graz

"Die Stadt bewegt sich immer weiter"

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Die Soziologin Sabine Haring-Mosbacher geht Alltagsbeobachtungen mit statistischem Material auf den Grund. Die Bevölkerungszusammensetzung der steirischen Hauptstadt untersucht sie mittels Faktoren wie Bildungsabschlüssen, Arbeitslosigkeit und Herkunft.

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Die Soziologin Sabine Haring-Mosbacher geht Alltagsbeobachtungen mit statistischem Material auf den Grund. Die Bevölkerungszusammensetzung der steirischen Hauptstadt untersucht sie mittels Faktoren wie Bildungsabschlüssen, Arbeitslosigkeit und Herkunft.

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DIE FURCHE: Frau Haring-Mosbacher, Graz wird das Image der geteilten Stadt nicht wirklich los. Wie kam es zu dieser Teilung, wie sind diese zwei Hälften historisch gewachsen?
Sabine Haring-Mosbacher: Die Teilung von rechter und linker Murhälfte geht schon Jahrhunderte zurück und ist in Graz daher sehr verwurzelt. Das betrifft bzw. betraf vor allem die inneren Stadtbezirke Lend, Gries, Innere Stadt, St. Leonhard und Geidorf. Seit der Besiedelung im 13. Jahrhundert existierte im Bereich von Lend, Gries und um die Annenstraße herum eine Vorstadt. Hier entwickelte sich das klassische Vorstadtsetting, das von vielen Personen besiedelt wurde, die in der Stadt arbeiteten und zugewandert waren. Das waren auch Händler, die auf den Transportrouten auf und neben der Mur wanderten. Auch Kranken- und Armenhäuser wie das Bürgerspital siedelten sich an. Diese unterschiedlichen Populationen gehen also bereits auf das Spätmittelalter zurück. Zur Zeit der Industrialisierung intensivierte sich das.

DIE FURCHE: Wo sieht man die Teilung am stärksten, wo am schwächsten?
Haring-Mosbacher:
Ich glaube, das lässt sich ganz schwer sagen, weil man in den Bezirken, in denen die Teilung sehr präsent war, mit Gentrifizierungsmaßnahmen entgegenwirkt. Ein Blick Richtung Süden bei den Bezirken Gries und Jakomini zeigt vor allem, dass diese Grenzen oft fließend sind. Wenn man ein paar Jahrzehnte zurückgeht, sieht man auch, dass die Annenstraße damals noch die beliebteste Einkaufsstraße in Graz war. Durch den Bau von Shoppingcentern entstand dann hier der Wandel.

DIE FURCHE: Sie sind mittlerweile selbst Grazerin. Wie unterscheidet sich ihr Blick der Bürgerin im Vergleich zu dem der Soziologin?
Haring-Mosbacher:
Ich bin seit meinem zweiten Lebensjahr in Graz und kenne die Stadt sehr gut. Als Kind und Jugendliche habe ich nichts wahrgenommen von dieser Teilung. Ich bin selbst in Andritz aufgewachsen, mein Bruder ist dann in Gösting (rechtes Murufer) im Kindergarten gewesen, so ist meine Mutter mit ihm jeden Tag über die Mur gegangen. Zudem waren wir sehr oft in der Annenstraße einkaufen, also da hat es dieses Gefühl der Teilung nicht gegeben. Als Soziologin versuche ich, Alltagsbeobachtungen mit Hilfe von statistischem Material auf den Grund zu gehen. Hier untersuchen wir die Bevölkerungszusammensetzung nach Faktoren wie Bildungsabschlüssen und Herkunft. Da ist es natürlich spannend zu sehen, ob das, was ich als Bürgerin wahrnehme, in irgendeiner Form von Daten bestätigt wird.

DIE FURCHE: Was sind die Gemeinsamkeiten der Hälften?
Haring-Mosbacher: Es gibt sehr viele Gemeinsamkeiten, letztlich leben die Grazer in einer sehr sicheren und lebenswerten Stadt. Im Rahmen eines Forschungspraktikums haben wir die Sicherheitsparameter abgefragt und da ist herausgekommen, dass sich die Personen in ganz Graz sehr sicher fühlen. Es besteht hier kein Unterschied zwischen linker und rechter Murseite. Was aber zu erkennen ist: Die Grazer stufen die typischen Hotspots wie Griesplatz und Stadtpark bei Nacht schon eher unsicher ein. Wobei man hier auch medial immer wieder beeinflusst wird durch die Präsenz dieser Plätze.

DIE FURCHE: Sie haben erst vor Kurzem bei der Tagung „Leben mit und an der Grenze“ das Panel „Grenzen im Kopf“ moderiert. Wie gefestigt ist diese Grenze in den Köpfen der Bewohner?
Haring-Mosbacher:
Diese Grenze ist sicher noch gefestigt und noch immer im Bewusstsein. Das merkt man vielleicht daran am besten, dass viele Eltern von der rechten Murseite ihre Kinder in Schulen und Kindergärten auf der linken Murseite stecken. So versuchen diese Familien oft, durch ihre Kinder doch noch auf das linke Murufer zu kommen. Das liegt auch daran, dass in den Schulen am rechten Ufer der Migrationsanteil sehr hoch ist. Dieses Phänomen ist rein durch die Sprengelpopulation nicht zu erklären, sondern eine Folge davon, dass einheimische Familien ihre Kinder nicht in diese Schulen bzw. Kindergärten schicken wollen.

DIE FURCHE: Was dürfen wir von der Zukunft erwarten? Beginnt die Stadt zusammenzuwachsen oder wird sie sich mehr trennen?
Haring-Mosbacher:
Die Stadt muss nicht mehr zusammenwachsen, ich glaube, dass hat sie in den letzten Jahren schon geschafft. Was in den nächsten Jahren sicher zunehmen wird, ist die Gentrifizierung, die mit Bauvorhaben das rechte Murufer aufwerten wird. Von diesen Bauvorhaben werden dann auch Bezirke wie Eggenberg und Gösting profitieren. Die Stadt bewegt sich also und wird sich immer weiter bewegen.

DIE FURCHE: Welche Maßnahmen müsste die Stadtregierung setzen, um die Grenze, die so stark im Kopf der Bewohner präsent ist, aufzulösen?
Haring-Mosbacher:
Durch die eben erwähnten Bauvorhaben ist auf jeden Fall schon ein richtiger Schritt gesetzt worden. Auch die Anbindung des öffentlichen Verkehrs ist ein wichtiger Punkt. Was wir nicht vergessen dürfen, ist die Rolle von Kulturfesten, die Stadtteile bereichern. Man würde sich wünschen, dass die Stadt derartige Initiativen stärker unterstützt. Vor drei, vier Jahren gab es die Annenstraße entlang einen Flohmarkt, da konnten alle Geschäftsbesitzer ihre Waren ausstellen und sich vor der vollen Annenstraße präsentieren. Aber da die Straßenbahn durch die Annenstraße fährt und das zunehmend zum Sicherheitsrisiko wurde, wurde der Flohmarkt eingestellt. Hätte die Stadtregierung hier Geld in die Hand genommen und die Verantwortlichen finanziell unterstützt, hätten diese den nötigen Schienenersatzverkehr einrichten können. Es gibt zwar stattdessen jetzt einen Hinterhofflohmarkt, aber das kann man leider nicht ganz vergleichen. Die Geschäftsleute können sich nicht so präsentieren und ins Schaufenster
stellen, wie sie das beim großen Flohmarkt konnten. Mit solchen Events sorgt man sehr leicht dafür, dass diese Grenze aufbrechen könnte.

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