In die Sonne gefallen, als die Nacht kam

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Religion und Lyrik haben miteinander viel zu tun. Das ist ja in den Schriften der Religionen längst evident. Im jüdisch-christlichen Kontext transportiert die Lyrik der Psalmen tiefstes Glaubenserspüren über Jahrtausende hinweg. Und die Hymnen bei Paulus oder der Johannes-Prolog zählen für die christlichen Zeitgenossen aller Epochen zu den berührendsten Momenten kodifizierter Glaubenserfahrung.

Und umgekehrt: Ein Gedicht, dieser "Wort gewordene Augenblick“ (© Julian Schutting), hat beinahe implizit religiöse Dimension, dennoch bleibt das Gedicht auf der Folie religiösen Glaubens als literarische Ausdrucksform eine seltene Erscheinung. Christliche Gebrauchslyrik, das Gedicht als Devotionalie, Nazarenerschule in Worten ist zuhauf zu finden. Aber nachhaltig literarische Qualität scheint rar.

Es mag historische Koinzidenz sein, dass die Schweiz gleich zwei Vertreter beinah gleichen Alters hervorgebracht hat, die ihren Glauben in den ungeschützten Worten ihrer Gedichte hinterlassen haben. Der eine, Kurt Marti, reformierter Pfarrer, der das, was er glaubt, mit politischer Botschaft und kraftvollen Worten verbunden hat, begeht dieser Tage seinen 90. Geburtstag.

Ein Jahr älter war Silja Walter, die katholische Benediktinerin im Kloster Fahr bei Zürich. Dort ist sie am 31. Jänner verstorben.

Cécile "Silja“ Walter wurde 1919 in eine Verlegerfamilie geboren und wuchs mit sieben Schwestern und dem Bruder Otto (1928-94), der selber ein bekannter Schriftsteller war, auf. Sie absolvierte ein Lehrerinnenseminar und veröffentlichte 1944 den ersten Lyrikband, mit dem sie literarisch bekannt wurde. 1948 trat sie ins Kloster ein und nahm den Ordensnamen Maria Hedwig an, als Dichterin publizierte sie aber weiterhin unter ihrem weltlichen "Mädchennamen“.

Kraftvolle Sprache, Gedichte, die um das Existenzielle eines Glaubens ringen - eingebettet in die Erfahrung benediktinischen Lebens in der Trias der Ordensregel - beten, arbeiten, lesen - so lässt sich das Setting beschreiben, aus dem die Lyrik von Silja Walter erwächst. Und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit ihrem glaubenslosen, links engagierten Bruder Otto F. Walter hat Wirkung gezeigt: 1982 fand nach Jahrzehnten der Trennung und Entfremdung ein im Radio dokumentiertes Gespräch zwischen Bruder und Schwester statt, das im Band "Eine Insel finden“ publiziert wurde - und bis heute ein herausragendes Zeugnis religiöser Auseinandersetzung darstellt.

Vom frühen Morgen an / lief ich durch alle Türen / auf einen armen Juden / zu / und fiel / als die Nacht kam / in die Sonne: Mit diesem Gedicht Für meinen Bruder hat Silja Walter ihre - mystische - Erfahrung in knappste Sprache gebracht.

Neben Gedichten hat Sr. Maria Hedwig auch Mysterienspiele verfasst und spirituelle Prosa, zu Lebzeiten wurde aber vor allem ihre Lyrik rezipiert: Das ist wohl das Vermächtnis, das von Silja Walter bleiben wird.

Zum 80er bekam die Weltabgeschiedene einen Computer, auf ihm schrieb sie ihre Autobiografie "Das dreifarbene Meer“, das zu ihrem 90er im Jahr 2009 erschien. Zu diesem runden Geburtstag wünschte sie sich einen Internetzugang - die Priorin des Klosters schlug ihr diese Bitte nicht ab.

Und so gehen wir und gehn wir / dahin / im kristallenen Fluss / aus der Goldstadt // in dem jeder tote Fisch / aufspringen / und singen / muss // zur Hochzeit des Lammes / gehn wir und gehn wir/ nach Hause hat Silja Walter einmal gedichtet. Solch biblisch inspirierter Vision ist wenig hinzuzufügen.

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