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Grenze mit Weltniveau

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„Die moderne Grenze mit Weltniveau“ — vor drei Jahren wenigen ausgewählten SED-Journalisten bei Brandenburg an der Havel im Modell vorgeführt — lagt sich jetzt fast lückenlos um die drei Westsektoren Berlins. Als die Besichtigung stattfand, demonstrierten Panzer der kommunistischen „Nationalen Volksarmee“ die Festigkeit der Eisensperren; Leistungssportler zeigten, daß es selbst ihnen nicht gelang, die bis zu eineinhalb Meter hohen Zäune zu überklettern, ahne Signalanlagen auszulösen, durch die Grenzsoldaten alarmiert werden. Eine fast vier Meter hohe Betonmauer sollte vollends jeden der wenigen bis an diese Stelle geglückten Fluchtversuche unmöglich machen.

Nach 48 Monaten Bauzeit scheint die „moderne Grenze mit Weltniveau“ fast fertiggestellt zu sein. Was 1965 am Modell gezeigt wurde, ist in die Praxis umgesetzt worden: kaum noch ein Fluchtversuch gelingt. Die Westberliner Polizei beobachtete, daß in den ersten drei Monaten dieses Jahres SED-Grenzsoldaten nur achtmal von der Schußwaffe Gebrauch machten und Flüchtlingen mit gezielten Schüssen den Weg verlegten, 1963 wurde 43mal von SED-Grenzsoldaten auf Flüchtlinge, die nach West-Berlin wollten, geschossen, 1965 dagegen nur noch 24>mal. 1963 konnten im ersten Vierteljahr noch mehr als fünfzig Personen nach West-Berlin fliehen, im gleichen Zeitraum dieses Jahres gelang die Flucht über die „moderne Grenze“ nur fünf Personen.

Wie die SED-Grenzsoldaten mit Flüchtlingen umgehen, erfuhr die Öffentlichkeit erst wieder kurz nach Ostern, als am 10. April ein Flüchtling an der Kreuzberger Sektorengrenze den Stacheldraht überklettern wollte und von den dort postierten Wachen mit mehr als fünfzig Schüssen „augedeckt“ wurde. Die Westberliner Polizei beobachtete, daß der Getroffene beim Abtransport durch einen Sanitätswagen der „Nationalen Volksarmee“ keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab. Am folgenden Tag endete der Fluchtversuch eines ebenfalls unibekannt geblieben Mannes am Potsdamer Platz in fünf Feuerstößen und einigen Schuß Einzelfeuer aus Maschinenpistolen der Grenzwachen. Der Leblose wurde von Grenzwächtern in den Ostsektor geschleift. Die Beobachtungen der modernsten Grenze mit Weltniveau“ wird nachts den Grenzsoldaten dadurch erleichtert, daß sie mit Infrarotgeräten ausgerüstet sind. Zur Unterstützung der Posten und Streifen wurden den Soldaten Schäferhunde zugeteilt, die auch in etwa 200 Hundelaufanlagen eingesetzt sind, mit denen verschiedene Abschnitte der „modernsten Grenze“ zusätzlich abgesichert sind. Die Schäferhunde der Grenztruppe sind nach Beobachtungen der Westberliner Polizei besonders scharf und gefährlich. Geflüchtete Grenzsoldaten erzählten, die Hunde würden mit rohem Fleisch und mit Pferde-und Rinderblut gefüttert. Ausbrechende Hunde seien sofort zu erschießen, damit sie kein Unheil anrichten. Für die schnelle Beweglichkeit der motorisierten Streifen, die gepanzerte Patrouillenfahrzeuge benutzen, wurden eigens Asphaltstraßen entlang der „modernsten Grenze mit Weltniveau“ angelegt, ebenso wie Beleuchtungsapparaturen. Stolperdrähte mit Kontaktanlagen für Leuchtkugeln vervollständigen die mechanischen Sicherungen im Todesstreifen.

Den Kern der „Grernzsicherungsan-lagen“ bildet ein etwa 1,50 Meter hoher engmaschiger Drahtzaiun und ein stellenweise unter Strom stehender Drahtzaun. Er ist mit Signalanlagen für die in der Nähe stehenden Wachtürme versehen. Außer den Streifen au Fuß und zu Wagen liegen in Betonbunkern entlang der „modernsten Grenze“ jeweils drei Grenzsoldaten. Von ihrem Maschinengewehrstand aus haben sie ein jeweils weitreichendes freies Schußfeld, vor allem in Richtung auf einen geharkten Sandstreifen. Zweireihige Panzersperren machen jeden Versuch unmöglich, mit schweren Fahrzeugen die Grenzsperren zu durchbrechen. Solche Unternehmen waren in den vergangenen Jahren Flüchtlingen wiederholt geglückt. Den Schlußstein der „modernsten Grenze mit Weltniveau“ bilden eine 3,50 Meter hohe Betowmaiuer und ein fünf Meter hoher Drahtzaun.

Eine ungefähre Vorstellung dieses Grenzsystenns mitten in Berlin bekommt man dann, wenn man sich vorstellt, daß alle diese beschriebenen Anlagen in einer Breite von nur 100 bis 150 Meter gestaffelt sind. Für den Dienst in den Grenzanlagen unterhält das Kommando Grenze der kommunistischem „Nationalen Volksarmee“ drei Grenzbrigaden. Die Brigade 1 bewacht die Mauer zwischen den Westsektoren und dem Berliner Sowjetsektor. Brigade 2 und 4 machen Dienst an der Demarkationslinie zwischen West-Berlin und der sowjetischen Besatzungszone. Chef dieser drei in und um Berlin stationierten Grenzbrigaden ist der „Stadtkommandant“ von Berlin, Generalmajor Helmut Poppe. Er übt sein Amt entgegen den alliierten Abmachungen aus. Die jeweiligen Stäbe dieser Grenzbrigaden sind in Ost-Berlin, in Groß-Glienicke bei Potsdam und in Potsdam selbst untergebracht.

Die Stärke der in Berlin an der Mauer stationierten Grenzbrigade wird auf 7000 Mann geschätzt, die im Schichtdienst eingesetzt sind, um Berlin sind weitere 8000 Grenzsoldaten der „Nationalen Volksarmee“ stationiert. Ihre Bewaffnung besteht aus Pistolen, Maschinenpistolen und Maschinengewehren. Den Brigaden an der Demarkationslinie zwischen der Zone und West-Berlin stehen

45-mm-Panzerabwehrgeschütze, 82-mm-Granatwerfer und Haubitzen zur Verfügung. Zum Unterschied gegenüber den Abschnitten der „modernsten Grenze mit Weltniveau“ in Berlin, zieht sich um ganz Berlin ein Panzergraben mit einbetonierten Stalhlspitzen,

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