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Das Recht zu schießen

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Über „Zwischenfälle“ an der Westgrenze der CSSR wird die Bevölkerung des Landes nur mangelhaft informiert. Der „Charta 77“-Vertreter Uhl im Gespräch mit der FURCHE.

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Über „Zwischenfälle“ an der Westgrenze der CSSR wird die Bevölkerung des Landes nur mangelhaft informiert. Der „Charta 77“-Vertreter Uhl im Gespräch mit der FURCHE.

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FURCHE: In jüngster Zeit häufen sich Grenz-,Zwischenfälle“ an der Westgrenze der Tschechoslowakei. Sind Schießereien an der Grenze ein Thema für die CSSR-Bevölkerung ?

PETR UHL: In der offiziellen Propaganda heißt es, daß unsere Grenzsoldaten das Land vor Feinden schützen. Aber das ist doch auf diese Weise seit mindestens 30 Jahren nicht mehr notwendig. Moderne Spione kommen heute mit gefälschten Pässen legal über die Grenze. Unsere Grenzsoldaten sind also nur dazu da, um auf Ostflüchtlinge zu schießen.

Ich glaube, man muß die Menschen in allen Ländern mobilisieren, daß der Schießbefehl geändert wird und Soldaten nicht mehr das Recht haben, auf Menschen in Grenznähe zu schießen.

In den tschechoslowakischen Medien hat man zu den jüngsten Zwischenfällen nur verfälschte Informationen verbreitet und darauf hingewiesen, daß eine feindliche Gruppe in die CSSR eindringen wollte. Allerdings glaubt man in der Tschechoslowakei solchen Informationen nicht. ,

FURCHE: Gibt es eine gesetzliche Grundlage für den Schießbefehl?

UHL: Es gibt einen Paragraphen aus dem Jahre 1983, der es Grenzsoldaten ermöglicht, auf Personen in unmittelbarer Grenznähe zu schießen, wenn diese ihren mündlichen Anordnungen nicht nachkommen. Wenn also jemand die Grenze unbefugt überschreitet, auf tschechoslowakischem Territorium erwischt und getötet wird, dann spricht man bei uns von einer Tötung aufgrund bestehender Gesetze.

Die Soldaten, die zum Töten ausgebildet werden, wissen, daß sie Menschen töten können und dafür noch belohnt werden. Im Fall des deutschen Bürgers Johannes Dick sehe ich die Tragödie nicht darin, daß er noch auf deutschem Boden erschossen wurde, sondern darin, daß Grenzsoldaten überhaupt Menschen töten dürfen.

FURCHE: Gibt es in der CSSR eigentlich Wehrdienstverweigerer, wie in manchen anderen osteuropäischen Ländern?

UHL: Eine organisierte Wehrdienstverweigerer-Bewegung gibt es bei uns nicht. Allerdings verweigern einzelne den Dienst mit der Waffe, vor allem aus Kreisen der Zeugen Jehovas und der Evangelikaien, die aus moralischen Gründen den Wehrdienst ablehnen. Viele von ihnen sitzen dafür im Gefängnis. Mir fallen von den Namen jetzt Jan Hrabina, Martin Simsa, Aloijz Krizina und Frantisek Matula ein.

Die „Charta 77“ hat in diesem Sommer ein Dokument mit dem Titel „Raum für die Jugend“ herausgegeben. Darin wird gefordert, den Militärdienst von derzeit zwei Jahren auf 18 Monate herabzusetzen - wie das in der DDR der Fall ist. Außerdem haben wir—ebenfalls nach dem Vorbild der DDR - die Einführung eines Wehrersatzdienstes verlangt, sodaß Verweigerer als Bausoldaten ihrer Verpflichtung nachkommen könnten.

Von seiten der Regierung gab es zu unseren Vorschlägen bisher keine Reaktion. Wir wissen jedoch, daß sich viele Jugendliche eine Verwirklichung dieser Forderungen wünschen.

FURCHE: Gibt es in der CSSR unabhängige Friedensgruppen, Pazifisten?

UHL: Vor kurzem gab es noch eine Gruppe „Junge Kunst für den Frieden“. Diese Leute bemühten sich um eine staatliche Anerkennung und wollten auch der Nationalfront beitreten. Sie nannten sich auch „Lennoner“ -nach John Lennon.

Diese Gruppe propagierte einen Pazifismus westlichen Typs. Sie wurde genau am fünften Jahrestag der Ermordung John Lennons gegründet. Man veranstaltete eine Demonstration in Prag mit An-tikriegsparolen und Aufrufen gegen eine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Ost und West. Vor zwei Monaten wurde diese Gruppe durch die Geheimpolizei aufgelöst.

FURCHE: Gibt es Auswirkungen der derzeitigen sowjetischen Politik auf die innenpolitische Situation in der Tschechoslowakei? Sind irgendwelche Veränderungen bemerkbar?

UHL: Es gibt gewisse Differenzen zwischen Regierungsmitgliedern. Ich glaube aber nicht, daß diese Meinungsunterschiede zu einer entscheidenden Veränderung der Politik führen werden. Die Parteistrukturen sind nämlich noch immer starr, schematisch, blockiert.

Es gibt technokratische Tendenzen, man kann auch von einem Gorbatschow-Trend sprechen. Doch die Zeit wird zeigen, ob das auf unsere Politik Einfluß haben wird. Bis jetzt hat sich nichts positiv geändert. Im Gegenteil: In den vergangenen sechs Monaten waren verschiedene Gruppierungen der unabhängigen Kultur in der CSSR immer größerem Druck ausgesetzt. Besonders betraf das Katholiken. Evangelische sind diesen Repressalien gegenwärtig weniger ausgesetzt. Stark betroffen sind religiöse Jugendliche, Vertreter der unabhängigen Kunst und Mitglieder der „Charta 77“.

Bei uns wird es - so glaube ich— in absehbarer Zeit zu keiner Liberalisierung der Gesetze kommen. Liberalisierungstendenzen in der Sowjetunion rufen derzeit in der Tschechoslowakei nur konservative Reaktionen hervor.

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