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Hildegard für Anfänger und Fortgeschrittene

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Der I Iildegard-Boom dauert nun schon fast zwanzig Jahre an. Ihr 800. Todestag 1979 löste eine Renaissance dieser Frau aus. Der (errechnete) 900. Geburtstag der Hildegard nächstes Jahr gibt Gelegenheit, dem verkaufskräftigen Thema weiterhin oder jetzt erst recht zu gedenken. 1 )abei ist die Unterscheidung seriöser Literatur von einer eigenartigen Mischung aus den Themenbereichen von „ganzheitliches Leben”, „Hildegard-Medizin” bis zu „Sacro-Pop” und einem eigentümlichen Markt um Edelsteine und Dinkelmehl nicht leicht zu treffen. Die herausragende Gestalt des deutschen Mittelalters wird in der Welle der schnellproduzierten Literatur verkleinert und vor allem esoterisch verbilligt. Wohltuend, aber ganz unterschiedlich stechen zwei Neuerscheinungen aus dem Herder-Verlag unter den üblichen Hochglanzgewürzmischungen über Hildegard heraus:

„Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeit” ist eine Festschrift zum 900. Geburtstag der Protagonistin, und ganz im Sinne einer Festschrift wird der Leistungen, Schriften und des au-

ßergewöhnlichen Lebens dieser Frau auf sehr hohem, wenn auch von unterschiedlicher Wissenschaftlichkeit geprägtem Niveau gedacht. Alle Beteiligten sind keine Hildegard-Anfänger und geben (zum 1 eil sehr spezifische) Kostproben ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Besten. Hildegard wird in unterschiedlicher Intensität in den Kontext der Moderne gesetzt; so kann es geschehen, daß in wenigen Zeilen ein Bogen von Hildegard zu Nietzsche und über Brecht, Pascal und Ko-pernikus wieder zurück zu Hildegard gespannt wird.

Hervorzuheben ist der Artikel von Barbara Newman: „Hildegard-Bilder in der hagiographischen Tradition”. Ihr gelingt eine spannende Analyse der kontextuellen Hildegard-Darstellungen, die nicht zuletzt von ihrer eigenen autobiographischen Sicht geprägt, den Ausgang aller Überlegungen zu dieser Frau bilden. Von hier aus können alle weiteren Erzählungen und Untersuchungen ausgehen bzw. wieder ins rechte Licht gerückt werden.

Der Tendenz, die Person Hildegards durch eine bestimmte religiöse Strömung zu vereinnahmen, wird in diesem Buch weitgehend widerstanden. Sie selbst soll unter ihren eigenen Lebensbedingungen und in ihrer Zeit verstanden werden und in aktuellen Bezug zu den Interessen der heutigen Menschen gebracht werden. Wobei die Frage, was an dieser Frau so aktuell ist, in ihrer ganzen Breite letztlich eine eigene Abhandlung verdiente, die wohl in die spirituelle Desorientiertheit weiter Bevölkerungskreise in der westlichen Welt eintauchen müßte.

Da dieses Buch sich als eine „Festschrift” versteht, verwundert es wenig, (laß nicht viel Kritik an Widersprüchen in der Person der Hildegard geübt wird: Hier handelt es sich nicht um ein Hildegard-Einsteigerbuch. Man erfährt hier nicht übersichtlich grundlegende Daten oder Fakten zum Leben, sondern kann sich in viele weiterführende Bereiche vertiefen.

Für Erstinformation viel besser geeignet ist das zweite Buch, das im Herder-Verlag herausgekommen ist: Heinrich Schipperges' „Die Welt der Hildegard von Bingen” führt nicht nur das Leben der Hildegard, sondern auch ihre Umwelt in - im wahrsten Sinn des Wortes - anschaulicher Weise vor Augen. Der bildschön gestaltete Band lebt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil vom Glanz seiner Bilder, die beinahe auf jeder Doppelseite einen Einblick nicht nur ins Leben, sondern auch ins Kunstschaffen jener Zeit einführen. Wobei die Manessische Liederhandschrift (entstanden um 1340) und vor allem der Isenheimer Altar mit den Malereien des Matthias Grünewald (1512-1516) auch in andere Epochen führen.

Schipperges hat sich Hildegard durch seine zahlreichen Publikationen zur Vertrauten gemacht und nimmt Leser und Leserin in ihre Welt mit. Wer sich beide Bücher leistet, ist für das Hildegard-Jahr gerüstet und wird mancher Unsäglichkeit, die über diese Frau erzählt werden wird, aufgeklärter gegenüberstehen.

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