6574443-1950_36_11.jpg
Digital In Arbeit

Eine Frau der sozialen Tat

Werbung
Werbung
Werbung

•Endlich! Das Thema dieses Buches ist schon lange fällig. Nun ist seine Bearbeitung aus der meisterlichen Hand Irmgard Domanig-Burjaris erschienen, dje Geschichte einer großen Frau und ihres sozialen Lebenswerkes, das sich heute segenspendend über ganz Österreich und über die Grenzen hinausbreitet.

Auf dem Schwarzen Brett der Wiener Universitätsaula las eines Tages 1910 eine junge Frau den Aufruf an katholische Akademikerinnen, in dem Gräfin Lola Marschall zu einem Kurs über soziale Arbeit einlud. Die Leserin fühlte steh angesprochen und folgte der Einladung, wenn schon sie selbst nicht aus dem katholischen Lager kam. Seltsam war der bisherige Lebensweg der jungen Frau Dr. Hildegard Burjan, der Gattin eines Beamten der Elektroindustrie, den sie, eine geborene Schlesierin, als Studentin der Universität Zürich kennengelernt hatte. Sie war keinem christlichen Familienmilieu entwachsen. Irgendwie aber war die Germanistin der Züricher Universität als Hörerin F. W. Foer-sters und Robert Saitschiks in ihrer Glaubensferne aufgerüttelt worden, ohne daß ihr sachender Geist das erlösende Ziel gefunden. In Berlin, wo sie ihre Studien fortsetzte, fiel das große Ereignis über ihre hungernde Seele herein wie ein Tarsuswunder.

Schwer erkrankt, im katholischen St.-Hedwigs-Krankenhaus daniederliegend, schon am Rande des Todes, aufgegeben von den Ärzten, taute auf die noch außerhalb der Kirche Stehende das beseeligende Geheimnis des Glaubens nieder. Und zugleich an dem Beispiel der Hedwigs-Schwestern die Erkenntnis, die ihr ganzes künftiges Leben formen sollte, die Erkenntnis: Nicht aus der Kraft des sich selbst überlassenen Menschen, sondern nur aus der Gnade des Glaubens kann die echte Liebestat hervorgehen. — Von vielen anderen Konvertiten unterschied sich Hildegard Burjan ihr Leben lang durch die schlichte Natürlichkeit ihres religiösen Wesens, an dem alles so selbstverständlich war, daß die wenigsten Menschen, die ihr in ihrem Wirken begegneten, ihren geistigen Herweg erahnten.

In Wien faßte Hildegard Burjan rasch festen Fuß. Sie liebte die österreichische Wahlheimat und ihre Menschen. In dem sozialtätigen KTeis um Lola Marschall, der hochgesinnten Führe--rin der damaligen sozialen Frauenkurse, die befruchtet waren aus dem Wirken Vogelsangs und Franz Maria Schindlers und bewegt von dem starken sozialen Impuls der jungen christlichsozialen Bewegung, fand Frau Hildegard Gleichgesinnte und Arbeitsgelegenheit. Mit einer heute leider vergriffenen Broschüre über Kinderarbeit, dem Ergebnis eingehender Studien, lenkte sie 1911 die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf schwere Mißstände. Ganz ins Große griff sie, als sie den Kampf für die Verbesserung der Lage der Heimarbeiterinnen aufnahm, eines Standes, der in einer heute fast unvorstellbaren, aus der Ära des Wirtschaftsliberalismus übergebliebenen Rechtlosigkeit stecken-i geblieben war. Im Verein mit einigen Gleichgesinnten aus dem Sozialen Kurs sammelte sie in den Elendsvierteln der Großstadt, an keiner Enttäuschung verzagend, diese Parias der Arbeit. Endlich hatte sie tausend beisammen, die sie nun in einem Verband organisiert beisammenhielt, und in deren Namen sie nun vor die Behörden tat; sie erreichte die gesetzliche Festlegung von Mindestlöhnen für Heimarbeit, unentgeltliche Wöchnerinnenhilfe für ihre Mitglieder und erreichte es, daß öffentliche Aufträge für Wäsche- und Kleidernäharbeiten unter Ausschaltung von Zwischenstellen zu besseren Lohnbedingungen direkt an den „Verband der christlichen Heimarbeiterinnen“ vergeben wurden. Die Verfasserin des vorliegenden ausgezeichneten Lebensbildes, die langjährige, intime Mitarbeiterin Hildegard Burjans sagt: „Von ebenso großer Bedeutung wie die materielle Hilfe war für die meisten dieser Frauen die Entdeckung, daß sich jemand ungefragt und, ungebeten gefunden hatte, der sich ihrer Not annahm, nur der Liebe Christi willen.“

Während des ersten Weltkrieges entfaltete sich Hildegard Burjans soziales Liebeswerk für die arbeitenden Frauen in breitester Front. Sie sammelte in der von ihr geschaffenen Vereinigung „Soziale Hilfe“ über zehntausend Frftuen und Mädchen des Arbeiterstandes, verknüpfte auf dieser Basis mit ihrer Heimarbeiterinnenorganisation die Verbände der katholischen Arbeiterinnen der Wiener Erzdiözese, der christlichen Tabakarbeiterinnen, uer4kathölischen erwerbstätigen jungen Mädchen, der organisierten christlichen Textilarbeiterinnen. Ja, alles das gab es damals noch. Mit dieser organisierten erwerbstätigen christlichen Frauenschaft hinter sich er-schiev Dr. Hildegard Burjan bei den öffentlichen Stellen mit Vorschlägen für Hilfe und Reform, schuf die mustergültige Verwaltung von Lebensmittelabgabestellen für diese arbeitenden Frauen und ihre Familien, richtete Arbeitsvermittlungsstellen und Nähstuben ein, vermittelte in Kursen Ausbildung und Selbsthilfe.

Die selbstlose Anwältin und Führerin arbeitender Frauenschaft wurde im März 1919 in die konstituierende Nationalversammlung der ersten Republik gewählt. Sie war inzwisohen Ignaz Seipel begegnet — bezeichnend für beide: im gegenseitigen Widerspruch. Es war 1917 in einer Frauenversammlung in Wien gewesen, in der Dr. Seipel als beauftragter Referent der Salzburger katholischen Frauenschaft erschienen war. Seine Kontrarednerin Dr. Burjan wußte ihn zu widerlegen und zu überzeugen. Der Widerspruch sollte diese bebedeutenden, einander geistig ebenbürtigen und eng befreundeten großen Geister auch noch begleiten, als Hildegard Burjan daranging, ihr überragendes Lebenswerk, die Schwesternschaft der Caritas Socialis, zu schaffen, Volksmissionärinnen, die man überall hinsenden kann, ungehindert durch äußere Schranken, Ordenskleid, Gelübde und Klausur, die eine religiöse Gemeinschaft bilden sollten, die aus dem Leben naoh den Evangelischen Räten den inneren Halt findet, „Schrittmacherinnen des Seelsorgers inmitten modernen Lebens“. — Seipel, der geistliche Berater und Superior der Neugründung, dachte hingegen an einen möglichst großen Kreis sozialtätiger, in loser Vereinigung zusammengefaßter katholischer Frauen. Er erstrebte eine in die Breite gehende Frauenbewegung für christliche Sozialarbeit. Aber er, der geistliche Führer der Caritas Socialis, kapitulierte vor der starkmütigen Frau, die von ihrem Plan nicht wich, der auf eine geschlossene Gemeinschaft abzielte, auf „etwas von Grund auf Neues, eine Kampfgruppe im Dienste der Liebe Christi“. Seipel liebte diese gelegentliche Kontroverse; er hielt sie notwendig . zur gründlichen Durchleuchtung schwieriger Probleme. Bis zu seinem Tode pflegte er mit dem Werke Hildegard Burjans eine treue Verbundenheit, aus der er priesterlichen Trost schöpfte.

Im Nationalrat erreichte Dr. Hildegard Burjan eine ganz einzigartige Stellung. Kein anderer Mandatsträger hat sich beim sozialistischen Gegner so durchgesetzt wie sie. Doktor Tandler bezeugte ihr seine unverhohlene Bewunderung; und als sie in späteren Jahren daranging, im Namen der Caritas Socialis in einem Arbeiterbezirlf eine Pfarrkirche zu errichten — die heutige Christ-Königs-Gedächt-niskirche in Fünfhaus — und für eine Sammlung von Haus zu Haus die Bewilligung des Bürgermeisters brauchte, empfing sie Karl Seitz liebenswürdig und sagte ihr: „Ich habe Ihre Arbeit im Parlament nicht vergessen und weiß, was Sie für die Wiener Bevölkerung leisten und was für ein selbstloser Mensch Sie sind. Von mir aus können Sie die Sammlung veranstalten.“ — Eine Episode, die nicht vergessen zu werden verdient.

Die ersten weiblichen Abgeordneten, die zufolge des neuen Frauenwahlrechts im März 1919 in das Parlament einzogen, waren von der Öffentlichkeit nicht mit großen Erwartungen begrüßt worden. Zumal die politischen Routiniers versprachen sich wenig von Parlamentarierinnen. Aber als am 30. Mai 1919 diesa Frau in den Bänken der Christlichsozialen zum erstenmal sich erhob und zu dem Gesetz über die Errichtung von Volkspflegestätten sprach, da horchten mit wachsendem Staunen ihre Zuhörer auf. ' Wie diese Frau sprach, mit gelassener Sicherheit Satz für Satz ordnend, mit einer eindringlichen Rhetorik, die aus gewinnender Herzenswärme und tiefstem Wissen um die Nöte des arbeitenden Volkes quoll, da zwang sie alle in ihren Bann. Nur einmal war ich Zeuge, daß sich ihre Wangen vor innerer Erregung röteten und sich ihre sonore Stimme zu akzentuierter Betonung erhob, als sie im Christlichsozialen Klub des Nationalrates in kämpferischer Polemik die namenlose sittliche und soziale Bedrängnis einer weiblichen Jugend schilderte, die, oft aus zerstörten Ehen stammend, ohne Gott und menschliche Helfer ins Leben hinausgestoßen, am Zugrundegehen ist. An der damaligen Gestaltung des Hausgehilfinnenrechtes und an der Gesetzgebung für Jugendgerichtsbarkeit wirkte sie bestimmend mit. Eine Wiederwahl für das Parlament lehnte sie ab, um sich mit konzentrierter Kraft der Führung der rasch aufblühenden Caritas Socialis und deren opfervollen Hilfswerken zu widmen. Seit ihren Universitätsjahren krankt sie an einem schweren inneren Leiden. Aber Krankheit und Schmerzen vermögen nicht, sie an dem Weiterbau ihrer sozialen Werke zu hindern. In dem Hauptquartier ihrer rastlosen Tätigkeit, wie Irmgard Domanig-Burjan den Hauptsitz der Caritas Socialis in der Pramergasse nennt, errichtet sie ein Heim für hundert erwerbstätige Mädchen, übernimmt auf Bitten des Kardinals Piffl, der erschüttert von einer Firmung aus dem Polizeiasyl für geschlechts-kranke, Von der Polizei aufgegriffene Frauen heimkehrt, die völlige innere Neuorganisation dieses Hauses durch ihre Schwesternschaft, eine Mission schwerster Erprobung,ihrer jungen Gemeinde, dann die in Klosterneuburg nach dem Weltkriege errichtete zweite der artige Anstalt und ein neues Heim für Nach fürsorge an diesen Kranken. In diesen Stätten verwüsteten Menschentums sind keine restlosen Erfolge zu erringen, heroisch ist der Dienst, der hier verlangt wird, aber die Schwestern, die Hildegard Burjan führt als Beraterin, Trösterin, begeisterndes Beispiel der Aufopferung, vollführen Rettungen, die zuvor keiner der Beamten und Ärzte erträumt hatte. Frau Hildegard, stößt auf Hindernisse in katholischen Kreisen. Als sie in der Hüttel-dorfer Straße eine Zufluchtsstätte für heimat: lose werdende Mütter eröffnet, erhebt sich scharfe Kritik, sogar Bischöfe finden, sie fördere die Unmoral. Aber ein unerschütterlicher Freund — die Caritas Socialis bezeichnet ihn als ihren geistigen Vater —, Kardinal Piffl, steht hinter ihr; sie errichtet die Heimstätte für Mutter und Kind, ruft in der bitteren Notzeit Wiens den „Elisabethtisch“ ins Leben, der vielen Tausenden schwerbedrängten Mittelständlern, Künstlern, Schriftstellern, Kleinrentnern eine zartsinnige Gastfreundschaft ge währt; erneuert für Österreich die Bahnhofsmission, die, unter Hitler unterdrückt, über dem dunklen Strom der Heimatvertriebenen wie ein leuchtender, hilfreicher Engel sich erhebt. Von dem Leitmeritzer Bischof Groß gerufen, wandern Frau Hildegards Schwestern zum Dienst der Familienfürsorge in notleidende ' deutschböhmische Gemeinden, und bald findet man sie auch in sozialen Arbeitsstätten von München und Berlin, Bozen und Meran.

Als am Dreifaltigkeitssonntag 1933 Hildegard Burjan ihr Lehen in einem schon von den Glorien der Ewigkeit übersonnten Sterben beschloß, betete und weinte um sie eine nach Hunderten zählende Schwesternschar und ragte in die Zukunft hinein ihr Lebenswerk der Caritas Socialis,. das heute in wundervoller Vielfalt, ganz Österreich überspannt. Einei der vor ihr in die Ewigkeit gegangen war, ihr Berater, Helfer und treuer Freund, Ignaz Seipel, hatte einmal von Hildegard Burjan ehrfürchtig gesagt: „Sie ist eine Heilige!“

Man kann die Lektüre dieses Buches nicht abschließen, ohne der Verfasserin Dank zu sagen. Sie hat für eine Frau, die Vorbild ist für Gegenwart Und 'künftige Generationen, ein würdiges literarisches Denkmal geschaffen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung