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Der Reformator von Genf hat die Moderne nachhaltig beeinflusst. Zu seinem Erbe gehört das Ringen um soziale Gerechtigkeit. Und Calvin wusste um die Wichtigkeit des Dialogs.

Johannes Calvin ist eine umstrittene Gestalt der Kirchengeschichte. Der Reformator von Genf hat die Moderne nachhaltig beeinflusst. Doch gilt er bis heute nicht gerade als Sympathieträger. Calvin war ein Mann des Widerspruchs, sein Charakter eine Mischung aus Härte und Milde. Er selbst hielt sich für schüchtern, sanft und zaghaft. Zeitgenossen beschreiben den stets schwarz gekleideten Genfer Reformator dagegen als energisch, ungeduldig, reizbar und rechthaberisch. Calvin war sich seiner menschlichen Schwächen bewusst. Auf seine emotionalen Ausbrüche folgte oft tiefe Reue.

Problematisch ist auch der streng asketische Grundzug in Calvins Frömmigkeit und Lebensführung. Dabei kennt doch auch Calvin die Freude an Gottes guter Schöpfung. Calvin kann uns an den Ernst der Christusnachfolge erinnern, aber eine rein asketische Sicht des Christentums ist biblisch betrachtet einseitig.

Die Quellen zeigen uns freilich auch einen einfühlsamen Menschen und Seelsorger. Bei aller Glaubens- und Sittenstrenge lag Calvin doch an Milde und Barmherzigkeit. Anders als etwa die Wiedertäufer in Münster verfolgte Calvin nicht das Ziel einer moralisch makellosen Kirche, sondern er wollte ein vom Gedanken der geschwisterlichen Zuneigung getragenes Gemeindeleben befördern.

Dass „unter den Menschen die Menschlichkeit bestehen bleibt“ zählte er zu den zentralen Aufgaben des Staates. Zu Calvins Erbe gehört das leidenschaftliche Ringen um soziale Gerechtigkeit. Seine Überlegungen zu einer Theologie des Rechtes und seine Sozialethik sind ungebrochen aktuell. „Raubtierkapitalismus“ und Neoliberalismus finden bei Calvin keine Rechtfertigung.

Heutige Zeitgenossen für Calvin zu begeistern, fällt nicht leicht. Zu einem nicht geringen Teil liegt es daran, dass bis heute ein arg verzeichnetes Bild des Genfer Reformators existiert, dessen Grund keineswegs nur in den politischen und kirchlichen Konflikten zu suchen ist, die Calvin in Genf auszufechten hatte, sondern auch in den bis ins 20. Jahrhundert hineinreichenden Konfessionsstreitigkeiten.

Das Bild gerade rücken

Die moderne Calvinforschung rückt das Bild des Reformators in vielen Punkten zurecht. Manche Züge Calvins und seines Denkens bleiben den heutigen Menschen dennoch eher fremd, und das, obwohl er die Moderne ganz maßgeblich mit geprägt hat.

Erheblichen Anteil am negativen Image Calvins hat der Fall Servet. Auf Betreiben Calvins wurde der spanische Arzt Miguel Servet 1553 wegen seine Leugnung der Trinitätslehre als Ketzer verbrannt. Zwar war der Spanier schon im französischen Vienne von der katholischen Inquisition in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, aber bereits in diesem Verfahren hatten von Calvin lancierte Beweismittel eine Rolle gespielt. Auch im Genfer Verfahren hat Calvin eine denkbar schlechte Figur gemacht.

Historisch ungerecht ist allerdings die Parallele, die Stefan Zweig in seinem Roman „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“, geschrieben 1935/36 im Exil, zur nationalsozialistischen Schreckensherrschaft zieht. Dass Servets Verurteilung unserem heutigen Verständnis von Gewissens- und Glaubensfreiheit widerspricht, bedarf keiner Diskussion. Aber das Genfer Urteil entsprach dem geltenden Recht im gesamten Heiligen Römischen Reich und war so gesehen kein Akt von Staatsterror. Calvin war kein Diktator, er hatte in Genf überhaupt nie ein politisches Amt inne und erhielt erst wenige Jahre vor seinem Tod das Genfer Bürgerrecht.

Bemerkenswert aktuell

Mit Recht gilt Calvin, der von Haus aus eigentlich ein humanistisch gebildeter Jurist war, als einer der bedeutendsten Theologen der gesamten Kirchengeschichte. Neben Calvins dogmatischem Hauptwerk, der 1559 in dritter Auflage erschienenen „Institutio christinae religionis“ (Unterricht in der christlichen Religion), und seinen Schriften zur Kirchenreform – man denke nur an die Genfer Kirchenordnung (1541) und den Genfer Katechismus (1542) – seien auch seine umfassenden Bibelkommentare erwähnt. Calvins Theologie ist die Frucht intensiver Bibellektüre. Bemerkenswert ist seine Wertschätzung des Alten Testaments. Auch für den heutigen christlich-jüdischen Dialog lässt sich von Calvin viel lernen.

Modern ist die Art und Weise, in der Calvin den Glauben als Ineinander von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis beschreibt. Auch wenn er die Zugehörigkeit des einzelnen Glaubenden zur Kirche betont, begründet Calvin doch eine Theologie der Individualität, die den Einzelnen vor Gott stellt. Die erste Auflage seiner „Institutio“ wird im Untertitel passenderweise als „pietas summa“ bezeichnet, als Summe der Frömmigkeit also – nicht als Summe theologischer Lehren. Glaube besteht nicht im bloßen Führwahrhalten und Nachsprechen dogmatischer Lehrsätze, sondern beruht auf persönlicher Erfahrung.

In diesem Kontext lässt sich auch Calvins Erwählungslehre verstehen, die, entgegen späterer Verzerrungen, den Einzelnen in seiner Glaubens- und Heilsgewissheit bestärken soll. Ob man freilich darum wie Calvin die doppelte Prädestination so lehren muss, dass es neben der ewigen Erwählung für viele Menschen die ewige Verdammnis gibt, ist fraglich. Karl Barth hat in der Erwählungslehre eine erhebliche Umstellung vorgenommen. Demnach sind in Christus alle Menschen gerichtet und von Gott angenommen.

Calvin ging es zentral um die Ehre Gottes. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen (vgl. Apostelgeschichte 5,29). Der Gedanke der Souveränität Gottes dient bei Calvin nicht etwa der Legitimation von weltlicher Monarchie und kirchlicher Hierarchie, sondern begründet im Gegenteil ein Modell der Gewaltenteilung. Dem Papsttum sprach er mit überzeugenden Argumenten jede theologische und biblische Legitimation ab. Sie haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Der Geist setzt sich fort

Nicht nur stritt Calvin für die Freiheit der Kirche vom Staat, sondern begründete mit seiner antihierarchischen Lehre vom vierfachen Amt in der Kirche – Pastoren, Lehrer, Älteste und Diakone – und seiner Lehre von der Gleichrangigkeit aller christlichen Gemeinden das Modell einer presbyterial-synodalen Kirchenordnung, das heute auch in den lutherischen Kirchen gilt. Der Calvinismus wurde damit zu einem Wegbereiter der modernen Demokratie, wenngleich ihre Wurzeln nicht ausschließlich in der Reformation zu suchen sind.

Auch Calvins Idee der Kirchenzucht weist eine starke Affinität zur modernen demokratischen Lebensform auf. Dem Genfer Reformator ging es um Transparenz und um Öffentlichkeit; Forderungen, die sich heute umstandslos auf die demokratische Zivilgesellschaft mit ihren Mitteln der parlamentarischen Kontrolle und des investigativen Journalismus übertragen lassen.

Calvin war ein Wegbereiter der Ökumene. Und er dachte in europäischen Dimensionen, wie seine weit verzweigte Korrespondenz belegt. Das gilt zunächst innerprotestantisch. Calvin versuchte, zwischen Luther und Zwingli theologisch zu vermitteln und die sich anbahnenden Spaltungen des evangelischen Lagers zu verhindern.

Der Genfer Reformator bemühte sich aber auch um den Dialog mit der Katholischen Kirche. Gerade die jüngere katholische Calvinforschung würdigt die strukturellen Parallelen zwischen Calvins Kirchenverständnis und dem Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Der bedeutende Calvinforscher Josef Bohatec (1876–1954), der an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien lehrte, hat Calvins Theologie treffend eine „Theologie der Diagonale“ genannt. Ihr Geist ist in den Zusammenschlüssen Evangelischer Kirchen in Europa, wie etwa in der Leuenberger Konkordie (1973), weiter lebendig.

* Der Autor ist Professor für reformierte Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien

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