Die Qualität zählt

Ich habe noch nie verstanden, weshalb es ein „Wert“ sein soll, ob ich zu einem, zu fünf oder zu siebenundzwanzig Frauen und Männern Beziehungen pflege. Werte bezeichnen nicht Quantitäten, sondern Qualitäten: Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Respekt, Sorgfalt. Es kommt nicht darauf an, mit wie vielen Leuten ich zusammenlebe, sondern ob ich ihnen ihre Freiheit lasse, ob ich ihre Würde, ihre Einzigartigkeit achte.

Sicher: Im Patriarchat war das anders. In der vergehenden zweigeteilten Ordnung kam es vor allem darauf an, dass die Hierarchie gewahrt blieb: Ein Mann verfügte über eine Frau oder über mehrere. Ob er mit seinem Besitz anständig umging, spielte letztlich keine Rolle. Hauptsache, er hatte das Sagen und die männliche Abkunft des Nachwuchses stand zweifelsfrei fest. Dass uns diese Tradition bis heute prägt, lässt sich nicht verleugnen. Wollen wir aber, dass solcherart Beziehungspolitik weiterhin Maßstab für unser Handeln ist? Im Grunde leben wir doch alle längst in vielfältigen und wandelbaren Beziehungsnetzen. Weshalb also noch über Ein- oder Vielehe streiten?

Ich persönlich finde es praktisch, mit einem Mann verheiratet zu sein. Warum? Weil ich es so gelernt habe und weil schon meine Eltern so lebten. Ich wüsste nicht, wie ich mit einem Harem anständig umgehen sollte, so, dass alle sich frei in Bezogenheit entfalten können. Es wäre eine echte Herausforderung. Bestimmt gibt es irgendwo Frauen, die verbindliche Beziehungen zu mehreren Partnern gut hinkriegen. Ich wäre überfordert.

Letztlich interessiert mich die Zahl der Beziehungen nicht. Mich interessiert die Qualität, im Bett ebenso wie auf dem Markt, am Herd und am Erwerbsarbeitsplatz. Lassen wir die Rechnereien, kümmern wir uns um das Wie unseres postpatriarchalen Zusammenlebens. Damit haben wir genug zu tun.

* Die Autorin ist Germanistin und evangelische Theologin. Sie lebt in der Ostschweiz