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Vor Mitternacht

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Friedrich Hebbels zynische Bemerkung, daß er die Krone Polens demjenigen verspreche, der Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ zu Ende lese, erfuhr jüngst (Sonntag, 28. Jänner 1968) im Fernsehen eine neuzeitliche, diesmal den „ganzen Stifter“ betreffende Entsprechung. Denn wohl nur an Schlaflosigkeit Leidende, Somnambule oder mit starkem Kaffee gedopte Literaturfans sahen die Gedenksendung anläßlich Stifters lpO. Geburtstag zu deren Ende, waren begeistert — und vergaßen schließlich ihren Ärger, daß sie bis knapp vor 22 Uhr auf deren Beginn hatten warten müssen.

Zugegeben, ein literarisches Porträt im Hauptabendprogramm anzusetzen, ist im allgemeinen problematisch. Nicht aber Im besonderen. Nicht im Fall von „Österreichs größtem Erzähler“, wie die Literaturgeschichten Adalbert Stifter etikettiert haben. Und schon gar nicht, wenn er von unserem Paradeschauspieler Josef Meinrad mit so viel Einfühlung (besonders seine Briefe) gelesen wird.

Es war eine kompro-miese Lösung, die das Fernsehen hier gefunden zu haben glaubte: nämlich einerseits die Gedenksendung zwar spät, aber doch nodh vor Sendeschluß auszustrahlen und damit Stifter pflichtgemäß zu seiner Ehre kommen zu lassen, aber anderseits auch seine vom anstrengenden Weekend ermüdeten Zuseher an einem Sonntagabend ja nicht im Hauptabendpro - gramm mit etwas Wissen zu belasten.

Hier wurde eine Chance, die sich nur alle fünfzig oder hundert Jahre so von selber ergibt, niaht ergriffen, Stifters Bücher, die der Dichter selbst als „eine Wohltat der Zeit" bezeichnet hat, einem breiteren Publikum anzubieten. Und das ist schade. Schade deshalb, weil gerade um:‘Menschen von heute, uns Rastlosen, Getriebenen, Zerstreuten, Sich-Zerreibenden, Zerrissenen und Oberflächlichen Stifter das schenken könnte, was uns so sehr fehlt: Ruhe und Einheit. Sammlung und Tiefe.

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